Von Berggöttern und wildem Reis

Die üppig wuchernde Natur rund um Xialu ist eine wahrhaftige Schatzkiste. Sie schützt die Menschen vor Mangelernährung und Hunger. Aber nur, wenn sie unterscheiden können, was man essen kann und was lieber nicht.

Wir gehen mit Tan Weinuan und ihren beiden älteren Nachbarinnen Li Aihua und Li Guixiang auf Gemüsesuche. Sie wollen uns zeigen, was in ihrem Dorf Xialu auf Hainan alles wächst. Nur wenige Schritte schlendern die drei Frauen, die zur ethnischen Gruppe der Li gehören, aus dem Dörfchen bis zum Fluss – schon hat Li Guixiang die länglichen Pandanusblätter in der Hand, die sie Ata Bokela nennt. Gleich daneben wächst Nai Cai. Cai heißt im Chinesischen „Gemüse“. „Nai Cai haben wir in den schlechten Zeiten gegessen, als wir gar nichts anderes zu essen hatten“, erzählt Li Guixiang. Heute ist die Vielfalt auf den Feldern Xialus wieder viel größer.
Auf der anderen Seite des Flusses haben die drei ein Feld mit Süßkartoffeln angelegt. „Früher haben wir die Süßkartoffeln mit Pestiziden gespritzt und die Blätter an die Schweine verfüttert“, erzählt Li Aihua. „Seit wir entdeckt haben, wie lecker die Blätter schmecken, essen wir sie selbst. Jetzt spritzen wir sie auch nicht mehr.“ „Und wenn wir sie verkaufen“, ergänzt Li Guixiang, „bekommen wir auf dem Markt jetzt einen guten Preis dafür.“ Die Löcher, die Schädlinge in die Blätter gefressen haben, sind kein Makel, sondern stehen für Qualität. „Unsere Kunden wissen, dass das natürlich gezogenes Gemüse ohne Chemie ist“, sagt Tan Weinuan. „Dafür zahlen sie einen besseren Preis.“
Weil die Touristen- und Universitätsstadt Sanya nur eine halbe Stunde Autofahrt entfernt ist, können die drei Frauen aus Xialu ihr Gemüse in dem städtischen Milieu mit seinen anspruchsvollen Kunden und den vielen Restaurants gut vermarkten. Seit ihr Dorf im Rahmen des Agrobiodiversitäts-Projektes beraten wird, wissen die Frauen viel mehr über Agrochemikalien und ihre schädliche Wirkung. Heute verzichten sie möglichst darauf, erzählen sie. „Wenn wir Pestizide spritzen, schmeckt diese Pflanze hier zum Beispiel überhaupt nicht“, sagt Li Aihua und zeigt auf ein grünes Gewächs mit gelben Blüten. Es heißt Zip, ist ein Wildgemüse und breitet sich von selbst zwischen den Peperoni aus, die die Frauen gepflanzt haben. Wie auch die nächste Pflanze, die uns Li Guixiang zeigt, schmeckt Zip sauer. „Diese hier nennen wir Bo Dong. Wir nehmen sie für unser Sauerfisch-Gericht“, sagt sie.
In nicht einmal einer Viertelstunde zeigen uns die drei Li-Frauen mehr als ein halbes Dutzend leckerer, essbarer Tropengewächse, wildwachsende Pflanzen. Die üppig wuchernde Natur rund um Xialu ist eine wahrhaftige Schatzkiste. Sie schützt die Menschen hier vor Mangelernährung und Hunger. Aber nur, wenn sie unterscheiden können, was man essen kann und was lieber nicht. „Ein Teil unseres Wissens über die Wildpflanzen ist in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen“, sagt Li Aihua. Im Agrobiodiversitäts-Projekt lernen die Li-Frauen nun, die verschollenen Kostbarkeiten der Natur wieder zu entdecken und zu
vermarkten. Beispielsweise, indem sie verschiedene Arten von Wildgemüse sammeln und auf dem
Markt verkaufen. Oder sie versuchen, die Wildpflanzen zu kultivieren und selbst anzubauen.
Indem die Frauen ihr Marktangebot erweitern und mehr Geld verdienen, helfen sie bei der Erhaltung
der Wildpflanzen in Xialu. Die Insel Hainan ist ein tropisches Paradies, ein idealer Vorratsspeicher für landwirtschaftliche Vielfalt. Doch wer im Inneren der Insel lebt, dort, wo sich die Berge auf fast zweitausend Meter hinauf schrauben, hat es schwer, Bargeld zu verdienen.  Die städtischen Märkte sind weit weg. Imker wie Pan Zhengge siedeln deswegen direkt an den Verbindungsstraßen. Die Kunden kommen mit dem Auto vorbei und Pan Zhengge und seine vier Kollegen müssen den Honig nicht kilometerweit aus dem Wald auf die Märkte tragen. Kurz hinter einer Kurve auf dem Weg von Xialu
in die Wuzhishan-Berge stehen die hundert Bienenkörbe von Pan Zhengge und seinen Kollegen.
Zu fünft leben sie gut von ihren einhundert Königinnen und deren zigtausend Arbeiterinnen. Für acht Kilo Honig, die sie durchschnittlich am Tag verkaufen, bekommen sie gut 18 EUR. Die Bienen
leben unter Idealbedingungen, in der ewig blühenden Tropenlandschaft. „Unten im Tal ist ein großes Litschi-Feld“, sagt Pan Zhengge. „Unsere Bienen lieben diese Blüten. Sie bestäuben aber auch die vielen anderen Pflanzen, die hier blühen.“ Klar, sagt der Mann mit dem Schutznetz vor dem Gesicht, er werde oft gestochen. „Aber das ist gut für die Durchblutung“, meint er.
Die Bisse der Blutegel, die sich der  Teezüchter Yun Yongxing im Dorf Shuiman ein paar Kilometer weiter beim Besuch seiner Teefelder einfängt, sind weniger schmerzhaft als die Stiche der Bienen. Die wenige Zentimeter großen,  blutsaugenden Parasiten lieben Teeplantagen, noch mehr aber mögen sie Menschenblut. In Deutschland werden diese Tierchen in der alternativen Medizin eingesetzt. Frühmorgens auf Hainan, wenn Yun Yongxing mit seiner Frau Mang Haining die ersten Tassen Tee trinkt, überziehen dichte Wolken die Vegetation mit einem feuchten Film. Der Morgentau in den Bergen ist ideal für den Anbau von Tee, er lässt die grünen Blätter üppig wuchern. Vor zwanzig Jahren fand der heute 50-jährige Yun Yongxing die Teepflanze, die er als Shuiman-Tee vermarktet, wildwachsend in den Bergen. Diese Teepflanze ist heute die Grundlage seiner ökonomischen Existenz.
Der Großteil des grünen Tees der Verkaufsgenossenschaft, zu der inzwischen zehn Familien gehören, werde heute immer noch wild in den Bergen gesammelt, erzählt Yun Yongxing. Nur den kleineren Teil der Produktion bestreite er mit dem Anbau der Kulturpflanzen. „Wir machen ein hundertprozentig ökologisches Produkt“, sagt er. Das hat – auch im verhältnismäßig günstigen China – seinen Preis: 160 CNY, umgerechnet etwa 16 EUR, kostet ein Kilo Shuiman-Tee, ein ganzes Monatsgehalt für viele Bauern. Obwohl er vergleichsweise teuer ist, können die zehn Familien die Nachfrage nicht decken: „Wir könnten viel mehr verkaufen als wir ernten“, freut sich Yun Yongxing und nimmt noch einen Schluck Shuiman-Tee. Goldgelb schimmert der wertvolle Tee, kräftig schmeckt er.
In Hunan, gut drei Flugstunden nördlich der Wuzhishan-Berge, ist noch Winter. Obwohl es draußen ungemütlich ist, gehen die Familien auf die Felder zum Arbeiten – auch, um sich weiter fortzubilden. An diesem Tag stehen in dem 300-Seelen-Dorf Shimen weit in den Bergen knapp 20 Menschen im Halbkreis um Chen Guangbo. Er ist einer der drei Leiter der Farmer Field School, die das Projekt für Shimen ausgebildet hat. Chen Guangbo gibt nun sein Wissen an die Bauern weiter. Besprochen werden die Themen, die den Landwirten in Shimen unter den Nägeln brennen, beispielsweise, wie sie ihre
Zitrusfrüchte einpflanzen müssen, damit sie fest anwachsen. „Ihr müsst aufpassen, dass die Wurzeln nicht zu lang sind“, sagt Chen Guangbo. „Und ihr müsst die Nebentriebe abschneiden. Erst dann wachsen sie an und werden kräftig.“ Die Bauern nicken zustimmend, sie rauchen und sie lachen viel. Dann probieren sie es selber.
Orangenbäume sind zu einer der Haupteinnahmequellen in Shimen geworden. 12.000 Kilo der Zitrusfrüchte haben beispielsweise Liu Jixiang und ihr Ehemann Li Changquan im letzten Jahr
geerntet. Damit haben sie 20.000 CNY, gut 2.000 EUR, verdient. Eine Menge Geld hier. Es hat sich für die Familie demzufolge gelohnt, das in der Farmer Field School erlernte Wissen anzuwenden. „50 Kilo kann ich bei der Ernte in den Bambuskörben auf dem Rücken tragen“, erzählt Liu Jixiang stolz. Gut 250 Mal sind sie und ihr Mann Li Changquan demnach auf ihre Orangenplantage gegangen, um die geernteten Früchte
wegzubringen. Li Changquan ist überzeugt, dass Shimen durch das Agrobiodiversitäts-Projekt eine große Chance bekommt. „Es ist für uns sehr wichtig zu lernen, wie man die pflanzliche Vielfalt richtig nutzt“,
sagt er. „Denn wir haben lokale Sorten in Shimen, die es nur hier gibt und die wir Bauern anbauen und vermarkten. Mit diesen alten Sorten verdienen wir mehr Geld als früher.“
Chen Guangbo nimmt uns mit zu der alten Dorfschule, in die jetzt die Farmer Field School eingezogen ist. Auf einem Regal stehen viele Gläser und Tüten: Saatgut, das er für uns auspackt. Schätze, die sie wieder entdeckt haben: Getreideund Gemüsesorten, die nur hier wachsen, in ihrem Dorf, in Shimen. Manchmal sind es kaum mehr als ein paar Hände voll Saatgut. Aber für die Familien hier sind es neue Pflanzen, die sie anbauen und deren Früchte sie ernten können. Es gibt besondere Sonnenblumenkerne, die hier runder wachsen als anderswo, es gibt roten und weißen Mais, Kastanien, die sich besonders gut
vermarkten lassen, weil sie anders als die eingeführten Kastaniensorten schmecken. In der Unterschiedlichkeit liegt ihr Wert, weiß Chen Guangbo. „Dieses hier ist roter Reis“, sagt er und lässt ihn durch die Finger rollen. „Diese alte Reissorte habe ich letztes Jahr an hohe Funktionsträger verschenkt. In diesem Jahr werde ich dafür einen sehr guten Preis erzielen.“