Kreideinsel Rügen

Das weiße Gold von Rügen

Die beste Zeit ist frühmorgens. Kurz bevor die Sonne der Ostsee entsteigt und lange bevor sich die Besucherkolonnen auf den Königsstuhl wälzen. In der morgendlichen Ruhe kann der 118 Meter hohe Kreidefelsen seine magische Kraft entfalten. Wenn von unten das Meer tönt, der Blick ungehindert über die steil aufragende Küste oder beunruhigend weit nach unten schweift und wenn die Kreide erst bläulich weiß, mit den ersten Sonnenstrahlen aber gelblich und am späten Abend in warmen Rot zu schimmern beginnt.
Dieses immerwährende Farbenspiel hat schon den Maler Caspar David Friedrich (1774-1840) in seinen Bann gezogen. In seinem Gemälde "Kreidefelsen von Rügen" hat er Deutschlands höchster Steilküste ein Denkmal gesetzt. So beschaulich wie damals geht es heute nicht mehr zu, weil jedes Jahr mehr als 600.000 Menschen den Königsstuhl besuchen.
Dafür bescheren die Touristen den Bewohnern der bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bitterarmen Ostseeinsel ein durchaus erkleckliches Einkommen. Dass die Küste in ihrer jetzigen Form überhaupt erhalten blieb, verdanken sie auf Rügen den vielleicht ersten Umweltschützern, die sich für die Insel einsetzten.
Denn die Kreide war immer auch ein bedeutender Rohstoff, der vor dem Ersten Weltkrieg noch direkt an der Küste abgebaut wurde. Heute befindet sich Rügens Kreidebruch dagegen im Landesinnern - rund acht Kilometer südwestlich vom Königsstuhl. Kabel, Kunstleder, Folien, Porzellan, Futter, Gummi, Farben - die Produktpalette, in der die weiße Erde zu finden ist, könnte beliebig fortgesetzt werden. Nur die Schulkreide besteht, anders als es ihr Namen vorgibt, schon immer aus Gips.
Um die Kreide ranken sich einige Anekdoten. Die Geschichte ihres Abbaus ist so interessant wie die historische Entstehung der Kreide vor etwa 69 Millionen Jahren. Über einige Details sind sich die Wissenschaftler heute noch uneins. Genauso über den Wahrheitsgehalt jener Sage über Klaus Störtebeker, der zufolge der berühmte Pirat entlang der weißen Küste noch einen Schatz versteckt haben soll.
Den Geheimnissen der Kreide kommt man am besten zu Fuß auf die Schliche. Vom Königsstuhl führt ein Holzbohlenweg aus 412 Stufen an den Strand hinab. Am Felsgrund liegen weiße Bruchstücke. Nass vom Morgendunst, zerbröselt die Kreide unter den Fingern und haftet wie Lehm an Haut und Schuhen. Beunruhigend weich für ein Material, das sich fast senkrecht mehr als 100 Meter auftürmt.
Die Kreide zeigt sich jedoch erstaunlich robust. Statt sich in Wasser aufzulösen saugt sie sich nur voll. Weniger als zehn Zentimeter pro Jahr fallen der Erosion durch Regen, Sonne und Kälte zum Opfer; die Ostsee hat daran kaum Anteil, selbst stürmische Wellen kratzen nur wenig an den weißen Felsen.
Heute bewegt ohnehin kein Lüftchen die See. Nur am Ufer entstehen kleine Wellen und werfen immer neue Steine an den Strand, die dann laut maulend ins Meer zurück kullern. Es ist das immerwährende Konzert der Feuersteine, die hier den Strand bedecken und zur Kreide gehören wie Rosinen zum Käsekuchen.
Als parallele Bänder liegen die Feuersteine in der Kreide; mal stehen sie einen halben, mal 1 ½ Meter auseinander. Sie bestehen aus Opal und der Quarz-Abart Chalcedon. Entstanden sind sie in einem physikalisch-chemischen Prozess, bei dem sich die durch Lösung des Kieselskeletts (beispielsweise aus Kieselschwämmen und Kieselalgen) entstandene Kieselsäure über Zwischenstufen zum glasig-spröden Feuerstein umwandelt.
Ein Teppich aus diesem schwarzen Knollen bedeckt den Strand. Jeder Schritt verhallt als lautes Klirren. Manchmal ist der Pfad nur einige Meter breit. Er führt an steil aufragenden Felsen vorbei, erst an der Kleinen Stubbenkammer und dem Kollicker Ort, dann weiter südlich am Wissower Klinken, der mehr beeindruckt als der Königsstuhl, aber deutlich weniger Besucher anzieht.
Schaut man die Steilküste hinauf, so ragen die grünen Buchen wie Haartollen über den Abgrund. Und zuweilen, wenn Regen und Erosion genügend Wurzeln freigelegt haben, stürzt einer der Bäume nach unten.
Gerade die engen Stellen hinterlassen ein mulmiges Gefühl, weil zu jeder Zeit auch Findlinge aus der Wand brechen oder locker gewordene Steine nach unten fallen können. Da hilft auch der Hinweis nicht, dass der letzte tödliche Unfall bis ins Jahr 1936 zurückreicht. Schließlich sind nördlich der Ernst-Moritz-Arndt-Sicht erst 1981 ohne Vorwarnung 150.000 Kubikmeter Kreidefelsen abgebrochen; ein Vorgang, der sich im Frühjahr 2002 wiederholte, als 25.000 Kubikmeter Kreide am Kollicker Bach abbrachen.
Viele Wanderer umgehen das Unwohlsein, in dem sie ihre Augen fest auf den Boden richten. Zumal sich mit ein bisschen Glück Versteinerungen von Seeigeln, Muscheln und Tintenfischen finden lassen - allesamt ehemalige Meeresbewohner.
Das ist kein Wunder. Vor rund 69 Millionen und mehr Jahren bedeckte hier Wasser die Erdoberfläche. Rügen lag damals mitten unter einer Meerstraße, die das englisch-französische Kreidemeer  - mit seinen heutigen südenglischen und französischen Kreideküsten - mit einem Meer um Krim und Kaukasus verband.
Aufgrund der Strömung wurden hier die Larven verschiedener Organismen verdriftet. Über einem Zeitraum von 600.000 Jahren setzten sich die Kalkpanzer und –skelette der abgestorbenen Lebewesen am Meeresgrund ab, wobei den größten Anteil (73 Prozent) daran winzigste Kalkscheibchen einzelliger Organismen (Coccolithen) ausmachten. Diese Kalkkörperchen sind kleiner als 0,01 Millimeter und können nur unter dem Elektronenmikroskop unterschieden werden.
Neben den Panzergeißeltierchen trugen auch Foraminiferen (20 Prozent) zur Sedimentbildung bei. Diese "Kammerlinge" gehören bereits zu den Fossilien und sind - anders als die Coccolithen - unter der Lupe, manchmal sogar mit bloßem Auge sichtbar. Diese winzigen Partikel verdichteten sich über die Jahre hinweg zu einer mächtigen, teilweise 300 Meter dicken Kreideschicht.
Tektonische Bewegungen drückten dann einzelne Blöcke an die Oberfläche, wo sie in der Weichseleiszeit vor 12.000 Jahren verformt und mit anderen Materialien wie Sand verpresst wurden, bis - von der Erosion einmal abgesehen - die heutige Kreideküste entstanden war.
Über diese Entstehungsgeschichte hat der Verein der Freunde und Förderer des Nationalparks Jasmund ein kleines wunderschön gemachtes Büchlein mit dem Titel "Insel Rügen - die Kreide" herausgegeben. Ihr Autor Manfred Kutscher kann wie kein anderer über die Inselhistorie und die Kreide erzählen. Die Schubladen seines Arbeitszimmers sind für Fossilienliebhaber eine Schatzkammer. Dort bewahrt er auf, was er an der Kreideküste gefunden hat: versteinerte Schnecken, Ammoniten, Belemniten - die Überreste ehemaliger Tintenfische also, reguläre und irreguläre Seeigel, Muscheln, Seesterne und Korallen.
Manfred Kutscher weiß auch über die Entstehung des Nationalparks Jasmund genauestens Bescheid. Um zu erklären, wie alles angefangen hat, holt er eine Aufnahme vor, die den an der Kreideküste gelegenen Kieler Bach zeigt. Hier wurde bis zum Ersten Weltkrieg das "weiße Gold" abgebaut, wie im Bildhintergrund zu sehen ist.
Diese Praxis sollte nach dem Krieg wieder aufgenommen werden. Doch Wissenschaftler aus dem In- und Ausland sowohl vorausschauende Bürger zwangen die damalige Staatsregierung, ihre bereits erteilte Abbaugenehmigung wieder zurückzunehmen. Damit war der erste Schritt getan.
Im März 1929 wurde mit einer Polizeiverordnung  der Schutz für das Naturschutzgebiet "Jasmund" erweitert. Im September 1990 erklärte dann die frei gewählte DDR-Regierung unter Lothar de Maizière dieses 3.000 Hektar umfassende Gebiet mit seiner Kreideküste und seinen Buchenwäldern zum Schutzgebiet. Wenige Tage vor der deutschen Einheit war damit der kleinste deutsche Nationalpark entstanden.
Der zieht heute mehr denn je Besucher an. Schließlich gehört der Uferweg unterhalb der Kreidefelsen zu den schönsten Wanderungen entlang der Ostsee. Das gilt auch für jenen Pfad, der oberhalb der weißen Felsen durch dunkle Buchenwälder führt, Bachtäler und Feuchtwiesen quert und Blicke über die Ostsee und auf die Kreidefelsen ermöglicht. Zwei bis drei Stunden dauert die Wanderung vom Königsstuhl in Richtung Süden. Dann tauchen die ersten Häuser auf. Sassnitz.
Zu DDR-Zeiten diente die kleine Stadt als Hafen für die große Fischereiflotte und die Fährverbindung nach Schweden. Erst mit der Wiedervereinigung wurden die grauen Hotels, Pavillons und Restaurants des Arbeiter- und Bauernstaates wieder weiß getüncht, die Häuser mit ihren Holzbalkonen (Bäderarchitektur) aufwändig restauriert und damit die Geschichte der 20er Jahre im letzten Jahrhundert neu belebt.
Damals hatte sich die Stadt mit dem Titel "Kurkreideheilbad" geschmückt, nachdem der Mediziner F.K. Wünn in Sassnitz damit begonnen hatte, Rheumabeschwerden, Gelenkversteifungen, Ischias und Frauenbeschwerden mit "dem weißen Bruder des Moores" zu behandeln. Die Patienten wurde dafür zwanzig Minuten in eine mit heißem Wasser und aufgelöster Kreide gefüllte Badewanne gesteckt oder erhielten Packungen aus der weißen Heilerde direkt auf die Haut. Bis in die 70er Jahre wurden diese Kreidekuren angeboten. Dann musste der Betrieb eingestellt werden - die Kreide hatte die gesamte Kanalisation zugeschlämmt.
Nach der Wiedervereinigung belebten einige kluge Investoren die Idee der Kreidekuren neu und bewiesen damit einen sicheren Instinkt fürs Geschäft. Denn in Zeiten von Körperkult und "Wellness" stieß das regionale Angebot auf großes Interesse. Zumal die Anwendungen heute nicht mehr "streng stationär", sondern in luxuriös ausgestatteten Wohlfühltempeln gegeben werden.
Inzwischen bieten alle besseren Hotels neben Massagen, Saunen und Whirlpool Kreidekuren an und verlängern damit ihre Saison gleich um mehrere Monate. Der Kreideverbrauch in den Bädern und Wellness-Zentren ist deshalb auf 40 Tonnen pro Jahr angestiegen.
Eine stolze Summe und doch nur ein Klacks für das Rügener Kreidewerk. Das steht fünf Kilometer westlich von Sassnitz, in Klementelvitz. Im letzten Jahr haben sie hier 80.000 Tonnen Kreide gefördert. Viele Angestellte werden dafür nicht mehr benötigt. Heute arbeiten auf dem Gelände gerade mal 36 Menschen, wo noch vor der Wende 460 tätig waren. Die gesamte Anlage läuft weitgehend automatisch. Die gebrochene Kreide wird per Förderband in das zwei Kilometer entfernte Werk transportiert. Dort trennt eine riesige Schlämmtrommel die Kreide von Steinen und Geröll. Dann fließt sie in Vorratsbecken, wird danach in zwei Filterpressen entwässert, in einem riesigen Gebläse getrocknet und dann - je nach Anwendung - verpackt oder lose in Vorratsbehälter gepumpt. Vom Brechen der Kreide bis zur Verpackung benötigen sie hier nur noch 80 Minuten.
Früher war der Kreidebruch eine körperliche Tortur. Über die 200-jährige Geschichte ihres Abbaus erzählt der Kreide- und Naturlehrpfad Gummanz bei Neddesitz. Täglich mussten die Männer bis zu 14 Stunden in der 60 Grad geneigten Kreidewand stehen, um sieben bis zehn Kubikmeter in die unten bereitgestellten Loren zu schlagen. Diese wurden dann zu den Schlämmbecken geschoben. Dort wurde die Kreide mit Wasser vermischt, über Rinnen geleitet, wobei sich Sand und Steine absetzten. Becken fingen die zähe Masse auf. Waren diese voll, musste die Kreide ausschlagen und getrocknet werden. Unter günstigen Wetterbedingungen dauerte dieser Prozess acht und mehr Wochen. Dann wurde die Kreide in Holzfässer verpackt und nach Martinshafen am Großen Jasmunder Bodden transportiert. Mehr als einen Hungerlohn verdiente damals keiner und mit 40 Jahren war ein Kreidearbeiter verbraucht.
Erst in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verbesserte sich das Los der Arbeiter, als die Produktion mechanisiert wurde und man die 19 kleineren Brüche zum VEB Vereinigte Kreidewerke Rügen zusammenfasste.
Aber nicht nur die Herstellung der Kreide veränderte sich mit der Zeit - auch ihre Verwendung. Wurde die Rügener Kreide vor dem Zweiten Weltkrieg vor allem in der Zement- und Farbenindustrie benötigt, diente sie danach vermehrt als Füllstoff bei der Herstellung von PVC, Kunstleder, Folien, Sanitärporzellan und Fliesen.
In der Kabelindustrie schätzt man heute noch die geringe elektrische Leitfähigkeit der Kreide, in der Düngerindustrie ihren basischen Eigenschaften. Doch in beiden Industriezweigen sinkt der Bedarf seit Jahren.
In den Umwelttechnologien öffnet sich inzwischen ein neues Absatzgebiet. Denn die Kreide wird in der Rauchgasentschwefelung von Kraftwerken benötigt und hilft, saure Abwässer zu neutralisieren oder Klärschlämme aufzubereiten.
Für weitere 50 bis 60 Jahre reicht das Vorkommen in Klementelvitz, dann muss das Rügener Kreidewerk neue Felder erschließen. Der neun Kilometer langen Kreideküste im Osten der Insel drohen natürlich keine Gefahren. Ihnen kann allenfalls der riesige Besucheransturm zum Verhängnis werden. Mit jedem Schuhtritt wird die Erde im Nationalpark verfestigt oder weggetragen. Eine Erosion, die Manfred Kutscher vom Nationalparkamt große Sorgen bereitet. Dort wo sich die Touristen massieren, wurden deshalb die Autos verbannt und Bohlenwege errichtet. "Aus ökologischer Sicht dürfte man keine Werbung mehr für die Kreidefelsen machen", sagt der Sassnitzer mit einem Lächeln.
Denn natürlich weiß Manfred Kutscher auch, dass die Menschen die Kreidefelsen auch in Zukunft mit eigenen Augen betrachten wollen, weil jeder Fernsehfilm über den Königsstuhl, jedes Foto von der Küste und - getreu dem Maler und Friedrich-Schüler Carl Gustav Carus - "jeder Strich nur eine Lästerung" der Wirklichkeit ist.