Unter Walen und schrägen Vögeln

Die etwas andere Kreuzfahrt auf dem kanadischen St. Lorenzstrom.

Mit den Amüsierlinern will Schiffseignerin Linda Jones ohnehin nicht konkurrieren. Sie bietet ihren Gästen lieber kanadische Wildnis zum Anfassen. Im Mündungsgebiet des St. Lorenzstromes brütet die zweitgrößte Tölpelkolonie der Welt, im Chic-Choc Nationalpark auf der südlich gelegenen Halbinsel Gaspésie äsen Karibus und im St. Lorenzstrom schwimmen Blau-, Fin- und Minkewale. Lärmendes Getöse würde da nur stören.

Auf der Écho des Mers braucht es weder Kostüm noch Krawatte, eher schon eine wärmende Jacke. An diesem wolkenlosen Nachmittag rauben die Windböen den Sonnenstrahlen jede Kraft. In Pullover und Windjacken eingepackt drängen sich die 44 Passagiere an die Reling. Langsam verschwindet der Hafen von Rimouski. Der lärmende Alltag bleibt am Ufer zurück, das einschläfernde Wummern des Schiffsdiesels bestimmt fortan den Takt auf der achttägigen Walbeobachtungsreise.
 
Alles an Bord ist überschaubar und rustikal. Die Messe mit der kleinen Bar, die Vier-Quadratmeter-Bibliothek, der Speisesaal. Die Enge hat einen Vorteil. Die Gäste müssen zusammenrücken. Und so dauert es nicht lange, bis sich die Passagiere über die Tische hinweg unterhalten, das Gewirr aus Französisch und Englisch lauter wird und die Tresencrew ins Schwitzen kommt. 

Der Unterlauf des Stromes liegt abseits der großen Touristenströme. Nur wenige Menschen verschlägt es in Quebecs Osten, 1 ½ Flugstunden von Montreal entfernt. Dabei entfaltet die Küstenlinie mit ihren Wäldern, Steilküsten und Fischerdörfern einen rauen Charme, locken die Restaurants mit Langusten, Meeresfrüchten und französischer Küche.

Doch die Gaspésie ist weit, die Überquerung des Flusses mühselig - wenn man mit dem Auto fährt. Ganz anders mit dem Schiff. Vom Wasser aus lassen sich alle Ziele direkt ansteuern. Dank des niedrigen Seegangs kann die Écho des Mers jede Insel ansteuern und wenn es eine lange Strecke zu überwinden gilt, fährt der Kapitän auch mal eine Nacht durch.

Als die Passagiere am nächsten Morgen erwachen, ankert die Écho des Mers bereits am Percé-Rock. Der ragt als mächtiger Felsblock aus dem Wasser. Hier macht die Gaspé ihrem Namen alle Ehre. "Gespeg" nannten die Micmac-Indianer die Halbinsel. Die Franzosen machten daraus der Einfachheit halber Gaspé, als sie unter ihrem Führer Jacques Cartier um 1536 einige Kilometer nördlich landeten. Genauso radikal handhabten sie die Landfrage. Sie erklärten die Halbinsel kurzerhand zu Eigentum der Grande Nation, weshalb heute noch aller Orten Französisch gesprochen wird.

"Gespeg" bedeutet in der Sprache der Micmac "Ende des Landes" und in der Tat schweift das Auge am Percé-Rock nur über unendliche dunkle Wassermassen. Irgendwo da draußen müssen die Anticosti Islands und Neufundland liegen. Nur südöstlich vom großen Felsen schiebt sich ein wenig Grün in den Horizont: die Insel von Bonaventura.

Die Lufthoheit über das vier Quadratkilometer große Eiland beanspruchen Möwen, Papageientaucher, schwarzgefiederte Kormorane, Gryllteisten  und Tordalks. Die größte Ansiedlung stellen freilich die 37.000 Basstölpel-Paare dar. Nirgendwo auf dem amerikanischen Kontinent brüten mehr dieser weißgefiederten Vögel mit dem langen Schnabel und der Gelbfärbung am Kopf. Auf jedem noch so schmalen Vorsprung der Steilküste bauen die Vögel ihre Nester. Jeder Millimeter des Territoriums wird eifersüchtig verteidigt, weshalb sich ein zänkisches Gekreische über der Insel erhebt.

Ihren Namen verdanken sie der ungelenken Art, mit der sie sich an Land bewegen. In der Luft verwandeln sie sich jedoch zu eleganten Fliegern und genialen Jägern. Aus bis zu 40 Metern stürzen sich die Basstölpel auf Heringe und Makrelen. Kopfüber tauchen sie ins Wasser ein und nur selten kommen sie ohne Beute wieder an die Oberfläche.

Bei ihren Fischzügen lassen sich die Vögel auch von der Écho des Mers nicht stören. Langsam umrundet der Kapitän das Eiland. Die Passagiere schauen und staunen und fotografieren. Keiner spricht, kaum einer bewegt sich. Nur ab und an rührt sich eine Hand, um auf eine neue Entdeckung zu zeigen.

Seehunde liegen auf den Felsen oder schwimmen im Wasser. Neugierig gleiten sie heran, um spielerisch abzutauchen und an anderer Stelle ihre Köpfe wieder aus dem Wasser zu recken. Dort, wo sich die Tölpel ins Wasser stürzen, jagen auch Delfine und Schweinswale, deren Heckflossen im Sonnenlicht schillern.

Dann meldet der Kapitän zwei Fontänen an Achtern. Die Gäste stürzen auf die anderen Seite, beugen sich über die Reling, um einen kurzen Blick auf die beiden Wale zu erheischen, die da keine 100 Meter entfernt vorbeigleiten.

Auf Wale reagieren alle gleich. Während sich nur wenige auf Vögel, Delphine oder Seehunde längere Zeit konzentrieren können, geschieht beim Anblick dieser großen Tiere das Gegenteil. "Da vergessen sie alles. Selbst Kälte, Durst oder Hungergefühle sind plötzlich wie weggewischt", weiß Linda Jones.

Auch sie erliegt jedes Mal aufs Neue der Faszination dieser majestätischen Schwimmer. "Wenn eines dieser wunderbaren Tiere vorbeizieht, wird mir bewusst, wie viel Schönheit die Welt für uns bereit hält", erklärt die 55-Jährige.

Diese Schönheit gilt es zu bewahren. "Nur was wir kennen, das lieben und schützen wir" lautet das Motto von Ecomertours. Je mehr Menschen sich von der Tier- und Pflanzenwelt bezaubern lassen, desto weniger werden ihre Zerstörung dulden, glaubt Linda Jones. Und viele Gäste sind nicht nur gut für die Umwelt, sondern auch fürs Geschäft.

Erst vor drei Jahren hat Linda Jones die Ecomertours gegründet. "Vor der Rente wollte ich noch ein letztes großes Projekt anschieben", erzählt sie ihren Gästen an der Bar. Die Kanadierin hat in ihrem Leben bereits Schüler unterrichtet, als Übersetzerin gejobbt, Management studiert, mit Universitätskollegen ein Restaurant geführt, acht Jahre eine Gesundheitsprogramm geleitet und ganz nebenbei die Verwaltung für die Forschungsschiffe organisiert.

Als dann eines dieser Schiffe zum Verkauf stand, fackelte sie nicht lange und spannte gleich die gesamte Familie ein. "Widerstand war völlig zwecklos", sagt sie grinsend. Wer in das verschmitzte Gesicht mit den Lachfalten blickt, glaubt ihr sofort. Ein Jahr wurde auf der Écho des Mers gehämmert, geschweißt und eingerichtet. Im Jahr 1998 startete das Familienunternehmen mit drei Touren, im vergangenen Jahr waren es bereits elf, für 2001 sind 17 Törns vorgesehen.

Das Angebot kommt vor allem bei den über 40-Jährigen an. "Die meisten sind bereits viel herumgekommen. Die wollen kein Halligalli, sondern genießen die Ruhe an Bord", sagt die Tourmanagerin. Dazu gehört auch eine gute Küche: Steinbutt in Kapern, Schweinelendchen an karamellisierten Äpfeln, Lachs in Kräuterkruste - die Crew serviert einfache, frische Kost ohne Firlefanz.

Abends lädt Linda Jones in den Gemeinschaftsraum. Meistens bringt sie einen Referenten mit - häufig Vogelkundler oder Naturwissenschaftler, die über die Fauna und Flora erzählen können.
 
Ihr heutiger Gast heißt Richard Sears. Der 48-Jährige mit seinem vom Wetter gegerbten Gesicht und den wilden Haaren gilt als eine der besten Walforscher Nordamerikas. Seit 22 Jahren studiert er das Leben dieser Tiere. Am Nordufer bei Mingan hat er ein Forschungszentrum errichtet. Er gehörte zu den ersten, die eine Fotokartei über Wale anlegten, die Gewebeproben untersuchten und den Gesang der Tiere studierten. Sein bisheriges Werk gilt als beispielhaft, "ist aber nichts mehr als ein Anfang", wie er seinen Zuhörern mitteilt.

Wale machen es Wissenschaftlern schwer. Nur zwei Prozent ihrer Zeit verbringen sie an der Wasseroberfläche und auch nur, um kurz Luft zu holen. "Diese kurzen Augenblicke müssen wir nutzen", erklärt er. Weshalb Richard Sears, wenn er erst einmal eine Fontäne am Horizont ausmacht, wie eine Formel 1-Pilot über das Wasser jagt, "um nach einer zehnminütigen Raserei festzustellen, dass wir den Genossen bereits vor zwei Stunden fotografiert haben".