Tauchen oder Untergehen

Am indischen Golf von Mannar tauchen Frauen nach Algen und finanzieren damit ihr Überleben.

Das Gesicht eines Menschen verrät häufig mehr über ihn als dieser von sich sagen mag. Bei manchen reicht ein Blick in die Augen, bei anderen senden Hautfarbe, Mundwinkel, Falten Signale der Freude, von Bitterkeit, Sehnsucht und Erfüllung. Bei der 14-jährigen Masheswari sind es die beiden kleinen Füße, die über ihr Leben erzählen. Furchen und Falten durchziehen die Haut über Spann und seitlich der Knöchel als hätte ein Priester sie in einem Ritual hineingeritzt. Wo ihre dunkle Haut in die hell schimmernden Sohlen übergehen, markieren Narben alte Verletzungen. Das sind keine Mädchenfüße, sondern die einer alten Frau.  
Maheswari nestelt an ihrem roten Kleid herum und blickt hinaus auf den indischen Ozean, der an diesem frühen Morgen fröhlich den weißen Sand hinaufrollt. Der Wind zerzaust ihre wilden, schwarzen Locken. Sie spricht wie sie lächelt, schüchtern und leise - den Mund hinter ihren Händen versteckt.
Mehr Frauen und Mädchen stoßen dazu. Sie haben Wasserflaschen und etwas zu essen dabei sowie Taucherbrillen und Netze. Mehr brauchen sie nicht, um nach Algen (siehe Kasten) zu tauchen, für die Frauen von Chinnapalam die einzige Möglichkeit Geld zu verdienen.
Die Mädchen und Frauen entern eines der Boote, die im seichten Wasser in der Dünung dümpeln. Der Kapitän steuert sein Boot aufs Meer hinaus. Vögel fliegen vorbei, das Meer schimmert paradiesisch blau. Schön ist es hier. Die Frauen bemerken es nicht. Sie kauern zusammen, schwatzen und kichern. Fünfzig Minuten dauert die Überfahrt, dann schaltet der Kapitän seinen Motor ab und lässt den Kiel auf den weißen Sand der Insel Krusadai auflaufen.
Ein paar Büsche und viel weißer Sand, vor allem aber keine Parkranger. Das ist gut. Masheswari springt heraus, eilt ihrer Mutter Lakshmi hinterher - die anderen folgen. Krusadai ist eine von 21 Inseln, die 1989 zum Biosphärenreservat erklärt wurden, weil ihre Korallenbänke zu den artenreichsten maritimen Regionen Indiens gehören. Deshalb darf die Inseln auch keiner betreten. Die Frauen scheren sich nicht darum. Die Algen, die auf den Korallen wachsen, bringen Geld.
Die Frauen wandern ans östliche Ende der Insel, legen Essen und Trinken in den Schatten und waten – bekleidet wie sie sind – ins Wasser. Das ist warm und kaum einen Meter tief. Masheswari bewegt sich vorsichtig über die farbig leuchtenden Korallenbänke. Sie fürchtet die scharfen Kanten und Spitzen, die mühelos ihre Plastikschuhe durchdringen und an ihren Füßen schon so viele Narben hinterlassen haben.
Die 14-Jährige zieht die Taucherbrille auf, steckt ihren Kopf ins Wasser und sucht die Korallen nach Algen ab. So hat sie es von ihrer Mutter gelernt und die von ihrer. Rund 150 Algenarten wachsen im Golf von Mannar, aber nur vier davon können die Frauen verkaufen. „Meine Mutter war sieben Jahre alt, als sie das erste Mal tauchte, ich helfe meiner Familie seit ich zehn Jahre alt bin“, sagt Masheswari. Sie holt Luft, taucht ab, wandert mit den Augen die Korallenbänke ab, reißt die eng verzweigten, an Heidebüsche erinnernden Algen ab und verstaut sie in ihrem Netz, um dann wieder Luft zu holen. 
Der Golf von Mannar ist eines der artenreichsten Gewässer Indiens. Über 133 verschiedenen Korallen gibt es hier. 450 Fischarten tummeln sich in den warmen Gefilden und zwölf Seegrasarten wachsen auf dem sandigen Untergrund, Nahrung für die vom Aussterben bedrohten Seekühe. Im Gegensatz zu Algen schlagen Seegras Wurzeln, während Algen sich gerne an tote Korallen heften. Davon gibt es mehr als genug. 75 Prozent aller Korallen im Golf sind bereits abgestorben.
Die Frauen von Chinnapalam tauchen nach roten Algen. Die werden je nach Spezies für Cremes oder Medikamente verwendet oder zu „Agar“ und „Carrageenan“ verarbeitet, jenes universelle, vegetarische Andickungsmittel, auf das Bierbrauer, Kosmetikhersteller, Wurstlieferanten und die Produzenten von Fertiggerichten kaum noch verzichten können. Wer in Indien oder in Europa seine Zähne putzt, Gummibärchen isst oder eine Eiscreme schleckt, nimmt Algen zu sich, auch wenn er diese nicht schmecken kann.
Kurz vor der Dämmerung fahren die Frauen zurück. In ihren nassen Saris sitzen sie im Boot und frösteln. Hitze und Salz haben sie ausgedörrt. Masheswari hat sechs Stunden im Salzwasser verbracht und sich die Hände wund gerupft. Ihre Augen sind rot unterlaufen, weil immer wieder Wasser in die Brille dringt. Aber sie blickt zufrieden auf die beiden vollen Netze. Eine gute Ernte heute.
Der menschenleere Strand glänzt in der Abendsonne. Rauchsäulen steigen in den Himmel. Eine leichte Brise streicht durch die Palmenblätter. Vom Meer aus wirkt das kleine Dorf Chinnapalam mit seinem kilometerlangen Strand, der geschwungenen Bucht und dem klaren Wasser wie ein Paradies.
Ein Paradies allerdings, das seine Bewohner in Abhängigkeit und Armut hält. Ein Gefängnis, aus dem es für Masheswari und ihre Familie kein Entkommen gibt. „Unsere Männer fangen weniger Fisch, während gleichzeitig der Preis für den Diesel in die Höhe schnellt“, sagt Lakshmi, die Mutter von Masheswari, nachdem sie sich das Salz von Haut und Haaren gewachsen hat. Deshalb braucht die Familie die Rupien, die sie mit den Algen verdienen. Entweder das Meer nährt die Menschen von Chinnapalam. Oder sie hungern.
Warum es immer weniger Fisch gibt? „Weil mehr Fischer aufs Meer fahren“, glaubt Lakshmi. Allein in Chinnapalam leben heute 270 Familien, früher waren es 30. Vor allem aber, weil die Regierung große Boote zulasse, die das Meer mit ihren Schleppnetzen leer fischten.
Dass diese auch Korallen und Seegrasfelder zerstören und damit die Brutplätze vieler Fischarten, das weiß Lakshmi nicht. Genauso wenig hat sie von den Industrieabwässern erfahren, die die Schwerindustrie in den Golf von Mannar einleiten.
Die Folgen spürt Lakshmi jedoch genau. Zur Wehr setzen aber haben die Dorfbewohner nie gelernt. Fischer rangieren im indischen Kastenwesen ganz weit unten. Also beugen sie sich – auch wenn dies Not und Ausbeutung für sie bedeutet. Statt die Algen direkt an die Industrie zu verkaufen, sind sie auf Mittelsmänner angewiesen. Zum Beispiel auf Mr. Anandan, der mit dem Motorrad aus Pamban kommt. Er begutachtet die Algen, meckert, dass zu viel Sand darin ist und nennt seinen Preis: „13 Rupien pro Kilo“, sagt der Mann mit den kurzen Haaren, dem Schnurrbart und der golden glänzenden Armbanduhr. Das klingt so unverrückbar wie das Meer, die Berge oder der gesamte Himmel. In anderen Ländern mögen Käufer und Verkäufer feilschen. In Chinnapalam nicht.
Die Frauen akzeptieren seinen Preis, wissend, dass er die Algen später für 16 bis 20 Rupien weiterverkaufen und ein gutes Geschäft machen wird. Aber der Mann mit dem mächtigen Bauch steht auf der Kastenleiter weiter oben und er hat etwas, was Lakshmi nur von ihm bekommen kann. Mr. Anandan leiht den Dorfbewohner Geld, wenn sie Medikamente kaufen, ihr Boot reparieren, ihre Töchter unter die Haube bringen müssen. Für Lakshmi ist er damit Unfall- und Lebensversicherung in einer Person, auch wenn die Konditionen ihren Ruin bedeuten.
200 Rupien hat sie sich bei ihm letzte Woche geliehen, nun muss sie 250 Rupien zurückzahlen – in getrockneten Algen. Mr. Anandan lässt die Menge wiegen. 21 Kilo, das macht 273 Rupien. Bleiben 23 Rupien übrig, rund 40 Eurocent – viel kaufen kann Lakshmi damit auch in Indien nicht.
Der weltweite Handel mit Algen boomt, doch für die Algentaucherinnen fallen allenfalls Brosamen ab. Die Algen helfen ihnen zu überleben, doch menschenwürdiges Leben bedeutet das nicht. Die Bewohner von Chinnapalam sind alle arm. Jene mit einem Haus aus Stein und richtigen Ziegeln auf dem Dach gehören zu den wohlhabenden Armen.
Das Haus von Masheswaris Eltern besteht aus Lehm, das Dach bilden gebündelte Kokosblätter. In den zwei Räumen lebt die 14-Jährige mit ihren fünf Geschwistern und ihren Eltern. Es gibt weder fließendes Wasser noch elektrisches Licht. Die Familie isst Fisch und Reis und einmal pro Woche Gemüse. Das kauft Masheswari im 2,5 Kilometer entfernten Dorf Pamban. Dort gibt es einige Läden, einige Tempel, eine Moschee und eine Busverbindung in die Welt hinaus, nach Ramnad, die eine Stunde entfernt liegende Provinzhauptstadt. Doch den Bus zu besteigen, das wäre für Masheswari als würde sie in einer Rakete zum Mond Platz nehmen.
Die Grenzen ihrer Wahrnehmung enden in Pamban. Während sich die Träume europäischer Teenager um Glück, Reichtum, Karriere kreisen, ist Masheswaris „sehnlichster Wunsch“, die Familie zu unterstützen. Das klingt furchtbar real und wird wohl immer ein Traum bleiben. Weil sie die Schule abgebrochen hat, um nach Algen zu tauchen und weil Kinderarbeit nur Armut fortschreibt, aber keine Chancen gibt.
Die Menschen von Chinnapalam sind Figuren in einem Spiel, bei dem andere würfeln und gewinnen. „Pepsi Foods Limited“ ist einer dieser globalen Spieler, die ein neues Feld entdeckt haben. Das indische Unternehmen revolutioniert gerade das indische Algengeschäft. Der Ort des Geschehens liegt keine zehn Kilometer von Chinnapalam entfernt; auf der anderen Seite der großen Brücke, die das Festland mit der Pamban-Halbinsel verbindet. Statt natürlich gewachsene Algen zu ernten, will Pepsi Foods die Algen kultivieren, wie es auf den Philippinen, in China und Indonesien längst üblich ist. Dazu legen Farmer schwimmende Gärten an. Die bestehen aus einem drei Mal drei Meter großen Rahmen aus Bambusrohren. Darin spannen 20 Leinen mit jeweils 20 winzigen Ablegern der Rotalgen „Euchema Cottonii“ und „kappaphycus alvarezii“. Diese Arten stammen von den Philippinen, wo sie seit Jahrzehnten angebaut werden. Sie wachsen deutlich schneller als die indischen Algenarten, weshalb Pepsi Foods auf die fremden Algenarten zurückgreift.
Über 2.000 schwimmende Gärten dümpeln in der Palk-Bucht – es könnten einmal viele Hunderttausend werden. Einige Hundert Farmer arbeiten für Pepsi Foods, ehemalige Fischer wie Marimuthu, der nun wieder ein Auskommen gefunden hat.
45 Tage überlässt Marimuthu die verankerten Gärten sich selbst. Dann watet der hagere Mann im seichten Wasser hinaus und zieht das Gestänge ans Ufer. Innerhalb von sechs Wochen sind die winzigen Ableger zu großen Algenbüschel herangewachsen, hat sich ihr Gewicht von 60 Kilo auf etwa 240 Kilo bis 300 Kilo vervielfacht. Der 46-Jährige braucht weder Boot noch Taucherbrille. Er schneidet die Nylonstränge ab, trägt sie den Strand hinauf und breitet sie in der Sonne zum Trocknen aus.
Marimuthu betreut zusammen mit seiner Frau 90 Gärten. Pro Kilo erhält er 8,50 Rupien und verdient in guten Monaten 150 Euro. Das ist viel Geld – sehr viel mehr jedenfalls als die Algentaucherinnen verdienen.
Sollte Pepsi Foods damit Erfolg haben, könnte Indien den gesamten Weltmarkt für rote Algen verändern. Auf über 8,5 Millionen Hektar ließen sich entlang der indischen Küste Algen kultivieren. Ein riesiges Potential – auch für arme Fischer.
Das sieht auch N. Muniyandi von der Fischergewerkschaft TRRM so. Seit Jahren versucht er die Bewohner entlang der Küste zu organisieren. „Ohne eigene Lobby werden wir immer Spielball wirtschaftlicher Interessen sein“, sagt der Gewerkschafter kämpferisch. Doch seine Worte fruchten bei den Fischern kaum. In Chinnapalam sitzen die Männer lieber zusammen, spielen Karten und trinken. Es sind eher Frauen wie Lakshmi, die dem Gewerkschafter zuhören, wenn er über Umweltverschmutzung und große Fischtrawler und geplante Industrieansiedlungen spricht, die die Bewohner an der Küste gefährden.Auch die Algenzucht könnte das Leben der Fischer verändern. Durch sinkende Preise zum Schlechten. Oder zum Guten. Weil sie das Leben der Fischerfrauen einfacher und ungefährlicher macht, vor allem aber mehr Geld bringt.
Um diese Chance zu nutzen, kooperiert die Fischergewerkschaft mit Pepsi Foods. TRRM informiert über die Algenzucht, organisiert staatliche Zuschüsse, mit denen die Familien ihre schwimmenden Gärten finanzieren können. Pepsi Foods wiederum garantiert die Abnahme der getrockneten Algen und einen festen Preis. Inzwischen leben 250 bei der Gewerkschaft organisierten Familien von der Algenzucht. 20 von ihnen kommen aus Chinnapalam.
Allerdings müssen sie jeden Morgen mit dem Bus an die zehn Kilometer entfernt liegende Palk-Bucht fahren. Denn im Golf von Mannar darf Pepsi Foods die Algen nicht kultivieren. Kritiker befürchten nicht ohne Grund, dass die „fremden“ Arten sich unkontrolliert vermehren und das biologische Gleichgewicht zerstören könnten.
Dabei sind die Bedingungen für die Algenzucht im Golf von Mannar ideal. Die geschützte Lage, die schwache Dünung, die nährstoffreiche See. In der Bucht könnten die Frauen von Chinnapalam mehr ernten als die Familien in der Palk-Bucht. Deshalb hoffen Lakshmi und Masheswari darauf, dass die Regierung ihre restriktive Haltung fallen lässt. Auch wenn das die Ökologie des Golfes durcheinander und damit die Existenz der Fischer langfristig gefährden könnte.
Diese Gefahr spüren die Frauen nicht; wohl aber, dass sie beim Tauchen immer weniger ernten, während gleichzeitig der Druck der Parkranger zunimmt. Lakshmi und Masheswari wollen deshalb lieber heute als morgen ihre eigenen Gärten kultivieren. Die Algenzucht ist wohl die einzige Chance, damit die Frauen von Chinnapalam menschenwürdig leben können. Und um endlich die Taucherbrillen an den Nagel zu hängen.

Info-Kästen

Algen
Algen wachsen im Meer genauso wie im Süßwasser. Neben mikroskopisch kleinen (Mikro-)Algen, existieren auch (Makro-)Algen, die sich zu ganzen Tangwäldern auswachsen. Algen ernähren sich von Phosphaten und Stickstoff, wachsen jedoch nur mit Hilfe von Sonnenlicht und Kohlendioxid. Sie bilden daher die Grundlage für das Leben vieler Meeresorganismen. Anders als Seegräser bilden sie keine Wurzeln aus. Weltweit gibt es etwa 40.000 Algenarten, davon 8.000 rote Algen, 2.200 braune Algen und 800 maritime grüne Algen.

Algen im Golf von Mannar
Die Frauen tauchen nach vier Algenarten. Die wichtigste heißt „Marikolund“ in Tamil. Dahinter verbirgt sich „Gelidiella Acerosa“, eine Rotalge, die wie ein Strauch viele kleine Äste mit zahlreichen „Blättern“ austreibt. Marikolund bringt den Taucherinnen am meisten Geld. Deshalb werden die Algen exzessiv gesammelt, was dazu führt, dass die natürlichen Bestände zurückgehen.

Algen und ihre Verwendung
Algen sind ein Nahrungsmittel und ein wichtiger Rohstoff für Kosmetika und Medikamente. 160 Algenarten eignen sich zum Essen, 221 Arten werden kommerziell genutzt. Vor allem in asiatischen Ländern kochen die Menschen damit. Die bekanntesten Spezies sind Kombu, Wakame und vor allem Nori. Algen sollen helfen bei Arthritis, Grippe und Tuberkulose. Algen enthalten wichtige Mineralien, Spurenelemente und Vitamine. Deshalb gewinnt man daraus nicht nur Medikamente, sondern verwendet Algen auch in Kosmetika. Vor allem werden sie zu Gelier- und Andickungsmittel verarbeitet, die von der Lebensmittel verarbeitenden Industrie zunehmend nachgefragt werden. Je nach Algenart werden sie zu Alginaten (braune Algen), Agar (rote Algen) und Carrageenan (rote Algen) verarbeitet. In der Industrie dienen sie als Geliermittel in Fleisch- und Wurstwaren, in Marmeladen und Babynahrung, in Milch-Shakes, Eiscremes und Desserts. Außerdem beseitigen sie Trübungen in Bieren und Weinen. Entsprechend wächst der Markt für diese Produkte seit Jahren. Allein der Handel mit den Nori-Algen setzt pro Jahr mehr als eine Milliarde US-Dollar um. Insgesamt schätzt die FAO den Markt für Algen weltweit auf rund sechs Milliarden US-Dollar ein.