Bauer Edos stachliges Glück

Nach Jahren des Niederganges entdecken die Schweizer wieder ihre Kastanienkultur.

Edo Martinelli ist was man früher einen komischen Kauz nannte. Das liegt weniger an dem in Ehren ergrauten Vollbart, nicht an der Brille, über deren Gläser er manchmal spöttisch, manchmal ernst hinüber schaut. Seine gutmütige Verschrobenheit erschließt sich erst, wenn man den 54-Jährigen in seinem Domizil besucht. Das liegt etwas oberhalb am Berg, weit ab vom Tal mit seinen Geschäften und seiner Geschäftigkeit.
Hinauf gelangt nur, wer gut zu Fuß ist oder ein allradgetriebenes Auto besitzt. Hier liegt sein Refugium, eine Steinhütte am Rande einer Wiese, auf der Ziegen grasen und Hühner picken und ein freundlicher Hund jeden Besucher ableckt. Umsäumt ist es von mächtigen Kastanienbäumen, deren Blätter grüngelb in der Sonne glänzen.
Wenn der Wind rauscht, fühlt man sich wie in einem grünen Paradies, bei Windstille dringt ein wenig vom Lärm der Lastwagen und Autos hinunter, die auf der Autobahn weiter oben Richtung Lugano oder St. Bernardino und St. Gotthard rasen.
Hierher hat sich Edo Martinelli zurückgezogen, nachdem der Metallbauschlosser erst seinen Beruf, seine Familie, das Haus und später auch seine Gesundheit verloren hatte. In der Abgeschiedenheit hat er seinen Frieden gefunden. Nun trägt er einen Clip am Ohr, der ihn mobil wieder mit der Welt verbindet. Dass er wieder erreichbar ist, hat mit einer Mission zu tun, die seinem Leben Halt gibt wie die Wurzeln seinen Kastanienbäumen.
Edo Martinelli blickt über die Wiese, er lauscht dem Wind und freut sich über das Konzert der Kastanien, die durch die Blätter brechen, krachend auf den Boden aufschlagen und dann durch das Gras den Hang hinunter kullern. Sofort ist da ein Impuls, die Früchte aufzuheben, sie in den Händen zu drehen und zu drücken und ihre feine Maserung zu bewundern.
Die Kastanien haben Edo Martinelli etwas von seiner kindlichen Freude zurückgegeben, ihn zurück ins Leben geholt. „Ich bin der erste Verrückte, der heute wieder das ganze Jahr über vom Kastanienanbau lebt“, sagt er, blickt ironisch über seine Brille und lacht. Das stempelt ihn ein wenig zum „Aussteiger“, weil die Kastanie nicht mehr als Lebensmittel verankert ist.
Früher war das anders. Noch vor 150 Jahren waren die Esskastanien in den Südalpen ein Grundnahrungsmittel. Nur mit der Frucht konnten die autark lebenden Bergbauern überleben. Vier bis sechs Monate aßen sie den Winter über Kastaniensuppe, Kastanienpolenta, Kastanieneintopf, geröstete und gekochte Kastanien und auch ihre Tiere bekamen Kastanien zu essen.
Viele Ortschaften in der Südschweiz heißen „Castaneda“, „Castasegna“ oder „Castagnola“ und wie Reis in asiatischen Sprachen mit „Leben“ gleichgesetzt wird, nannten die Bewohner der Südalpen den veredelten Kastanienbaum schlicht „Baum“. Denn dank seiner späten Blüte konnte ihm Frost nichts anhaben. Die Kastanie ließ sich gedörrt gut konservieren, das Holz mit seinem hohen Tanningehalt eignete sich vorzüglich als Bauholz. Die Kastanie bildete ein Zahlungsmittel für Tribute und Zehnten, war Tauschwährung und diente als Witwenrente.
„Die Menschen lebten früher in Symbiose mit ihren Kastanien“, sagt Edo Martinelli und wie er so dasitzt in seinem blauweißen Hemd und die Kastanien in seinen schwieligen Händen dreht, der spürt, dass der 54-Jährige diese Symbiose zumindest für sein Leben wieder anstrebt.
Dass die Verbindung zu der Frucht vor 150 Jahren jäh endete, war schlecht für die Kastanienkulturen, aber gut für die Menschen. Durch die Entwicklung der Industrie und der Eisenbahn wurde es möglich, auch Lebensmittel wie Reis, Weizen oder Kartoffeln über weite Strecken zu transportieren. Sie erreichten die zwangsweise autark lebenden Dörfer. Fortan mussten die Menschen nicht mehr hungern.
Mit der Bedeutung der Kastanie als Brotfrucht verschwanden jedoch auch die meisten Kastanienhaine und mit ihnen das Wissen um die Verarbeitung und Zubereitung der Kastanie, sagt Marco Conedera. Während Edo Martinelli Kastanien sammelt und verarbeitet, sitzt der Wissenschaftler der Eidgenössischen Forschungsanstalt in einem Zimmer mit hohen Decken mitten in Bellinzona. An den Wänden hängen Karten und Fotos, in den Regalen stehen Bücher über Kastanien, über Eigentumsrecht und Dorfentwicklung. Marco Conedera ist so etwas wie ein wandelndes Lexikon der Kastanienforschung. „Früher haben die Menschen ihr Wissen nur mündlich weitergegeben“, sagt er. Deshalb schreibt er alles auf.
Es waren die Römer, die Kastanienkulturen auf der Alpensüdseite einführten und damit die Landnutzung radikal veränderten. “Statt Wiesen und Ackerfläche durch Brandrodung zu gewinnen, bewirtschafteten die Menschen ihr Land fortan aktiv“, erklärt der Schweizer Wissenschaftler.
Und bauten viele verschiedene Sorten an. Manche eigneten sich für Viehfutter, andere wie die Sorte „Verdesa“ waren gut konservierbar, weil ihre stachelige Hülle geschlossen blieb. Marroni hingegen, jene Sorte, in der sich nur drei Kastanien pro Hülle finden, bauten sie in den Bergen nicht an. Bäume dieser Arten trugen zu wenige Früchte. Wenn heute auf dem Markt hingegen Marroni angeboten werden, dann sind damit nicht mehr Früchte dieser Sorten gemeint. Heute sind Marroni schlicht ein Synonym für besonders große Kastanien.
Kastanie ist also beileibe nicht Kastanie. Über 100 Sorten Esskastanien gibt es. Sie sollen erfasst, ihre Eigenschaften katalogisiert werden. Denn Marco Conedera will nicht nur die Geschichte der Kastanien aufschreiben, sondern auch dazu beitragen, „die Schweizer Kastanie aus ihrem ökonomischen Dornröschenschlaf zu wecken“.
Die Nachfrage gibt es. Im Herbst kaufen die Schweizer Esskastanien, sie besuchen Kastanienfeste, trinken Kastanienbier und essen heiße Marroni. Inzwischen konsumieren die Schweizer wieder sehr viel mehr Kastanien als noch vor zwanzig Jahren, als die Früchte als „armer Leute Essen“ verpönt war.
Die Nutznießer aber sind italienische, französische und spanische Bauern, die ihre Kastanien in die Schweiz exportieren, während die heimischen Früchte nicht selten unter den Bäumen verfaulen.
„Unser Problem ist, dass wir über keine gesicherten Vertriebswege verfügen, weil Schweizer Kastanienbauern sich keine teuren Erntehelfer leisten können, wir also auf Gelegenheitssammler angewiesen sind“, sagt Paolo Bassetti. Der 46-Jährige produziert und handelt mit Polenta- und Buchweizen-Produkten. Nun steht er im T-Shirt und kurzen Hosen in der Getreidemühle von Cadenazzo und versucht die Quadratur des Kreises. Während sein Mobiltelefon unentwegt klingelt, wiegt er Kastanien ab, die Rentner und Mütter anliefern, drückt ihnen 1,80 Euro das Kilo große Kastanien und 65 Eurocent für das Kilo kleine in die Hand. Nebenbei schiebt er Kisten mit Kastanien hin und her, um Platz für weitere zu schaffen und versucht, die Maschinen der Mühle auf Kastanien zu eichen. Der Mann mit der Halbglatze und dem Oberlippenbart kämpft offensichtlich gegen das Chaos an. „Ich weiß wie man Polenta produziert, bei den Kastanien fange ich von vorne an“, sagt er und schwitzt.
30 Tonnen Kastanien braucht er, um damit 10 Tonnen Kastanienmehl zu produzieren. „Die Migros Tessin will das Mehl in ihr Sortiment aufnehmen. Das aber machen sie nur, wenn ich ihnen auch eine entsprechende Menge garantieren kann“, sagt Paolo Passetti.
Deshalb braucht er Leute wie Edo Martinelli, die Kastanien als ihre Passion begreifen. Der 54-Jährige nennt inzwischen 425 Kastanienbäume sein eigen. Er könnte gut und gerne einige Dutzend Tonnen ernten, im vergangenen Jahr hat er 4.500 Kilo aufgelesen.
Kastanienbauer zu sein, das bedeutet ab Oktober ein Leben auf allen Vieren. Für Paolo und Maria, seine beiden Helfer, genauso wie für Edo Martinelli selbst. Der Musiker Paolo, der eine Auszeit von seiner Familie braucht, schützt seine Hände vor den Stacheln mit Handschuhen, Maria sammelt die Früchte in ihrem nach oben geschlagenen Rock. „An einem guten Tag sammelt jeder von uns 200 Kilo Kastanien“, sagt Edo Martinelli. Dann aber schmerzt der Rücken als sei er auf vielen tausend Kastanienschalen gebettet.
Es gibt auch schlechte Tage, wenn der erste Regen den Hang in einen nassen Schwamm verwandelt, sich kalter Nebel über die Bäume legt und die Luft nach Winter schmeckt. Dann sitzen Edo und Maria am großen Tisch und schälen Kastanien, die über dem offenen Feuer in einem schwarzen Topf brodeln.
Es ist ein mühsames, zeitraubendes Geschäft. Es lohnt sich, weil Edo Martinelli die Früchte veredelt, er daraus Marmelade kocht oder getrocknete Kastaniensplitter produziert oder beschwipste, in Alkohol eingelegte Kastanien.
Für seine Passion ist er auch bereit, ins geschäftige Tal hinab zu fahren und seine Produkte auf Wochenmärkten und in Läden feilzubieten.
Den Handel begreift er jedoch nur als einen Teil seiner Mission. Er will die Menschen für die Kastanie gewinnen und ihnen von ihrer Bedeutung und früheren Nutzen erzählen.
Inzwischen pilgern immer wieder Schulklassen und Besuchergruppen den alten Römerweg hinauf und Besuchergruppen. Dann spricht er über die Kastanie als regionale, ökologische Frucht, die viele Kohlenhydrate, Proteine und Vitamine enthalte, aber zwanzig Mal weniger Fett als die gleiche Menge Erdnüsse. „Eine Tasse Kastanien machen so satt wie ein Teller Spaghetti“, sagt er und serviert zum Beweis eigene Kastaniennudeln.
Im Herbst können die Besucher Edo Martinelli über die Schulter blicken, wie er die geernteten Früchte auf einem großen Tisch ausbreitet, die Kastanien der Größe nach auf vier Körbe verteilt, nachdem er die wurmstichigen heraussortiert hat. „Die erkennt man an den Löchern in der Schale“, erklärt Martinelli seinen Zuhörern. Aus den kleinsten macht er Mehl, die größten verkauft er ungeschält auf den Märkten, aus den mittleren gewinnt er seine Spezialitäten.
Zuvor aber müssen die Kastanien baden; erst 45 Minuten in 50 Grad heißem Wasser, weil das Parasiten abtötet. Dann kommen sie vier bis fünf Tage lang in Bottiche mit kaltem Wasser. Wurmstichige Kastanien schwimmen dann an die Oberfläche, vor allem macht das Wasserbad die Früchte haltbarer. Nun kann Edo Martinelli sie verkochen, verkaufen oder sie im Kühlschrank lagern.
Das konnten die Kastanienbauern vor 200 Jahren nicht. Sie mussten ihre Früchte – um sie haltbar zu machen - in eigens dafür gebauten Dorrhütten aus Stein trocknen. Auch darüber erzählt der Kastanien-Rundwanderweg in der Region Malcantone.
Von Gravesano aus führt die Straße in steilen Kehren hinauf. 859 Meter über dem Meeresspiegel liegt Arosio, Ausgangspunkt für die Wanderung. Im Oktober und November muss ein beizender Brandgeruch über den Kastanienhainen gelegen haben. Bis zu 28 Tagen lagen die Kastanien in den Dörrhütten, weiß Carlo Scheggia. „Die Feuer durften nicht zu stark brennen, aber auch nicht ausgehen. Es war ein diffiziles Geschäft.“
Mindestens so schwierig war es auch, die fünf Gemeinden entlang des Weges von der Idee des Kastanienpfades zu überzeugen. Der Revierförster mit dem Vollbart in seinem gemütlichen Gesicht hat es trotzdem geschafft. Inzwischen haben sie dem Wald rund 100 Hektar Kastanienhaine abgetrotzt, haben das Unterholz geschlagen, Birken und Buchen gefällt, die Kastanienbäume beschnitten. Die Arbeit hat sich gelohnt.
Einem Wald gleicht die Landschaft nun nicht mehr, eher einem von Licht durchfluteten, englischen Park. Schafe und Ziegen halten das Gras niedrig, unter jedem Baum liegen die rotbraunen Früchte neben vertrockneten und frischen Schalen.
Die meisten Bäume tragen Nummern. Jede Familie markierte damit ihre Kastanien. In jeder Gemeinde durften sie eine bestimmte Zahl von Bäumen auf öffentlichem Land errichten, so wollte es das „Jus plantandi“, das Recht des Pflanzenden. Es stammt aus dem Olivenanbau, wurde in der Schweiz aber um das Jahr 1.000 für die Kastanienbewirtschaftung eingeführt. Gute Bäume versorgten die Familie mit bis zu 150 Kilo.
Dass um die Früchte bei der Ernte gestritten wurde, das können die Wanderer erahnen. Wo die Bäume doch häufig eng beisammenstehen, die Äste sich überlappen und kein Mensch die Früchte ihrem Besitzer zuordnen kann.
Heute streitet niemand mehr über die in der Sonne glänzenden Früchte. Selbst wenn ganze Familien jedes Wochenende die Haine mit Tüten und Körben stürmen. Es gibt mehr als genug.
Daran wird auch eine kommerzielle Produktion nichts ändern, die in der Schweiz nur marginal bleiben kann. Die Revitalisierung der Haine lohnt nur, wenn die Kastanienselven für Touristen aufbereitet werden und sie zusätzlich für eine extensive Weidewirtschaft genutzt werden. Aber es gibt auch nicht ökonomische Aspekte, erklärt Marco Marcozzi, Regionalsekretär der Region Malcantone betont einen anderen Aspekt. „Viel wichtiger als die Produktion ist die Identität, die uns die Kastanie gibt.“
Eine ganz andere, eine hemdsärmlige Identität zieht Edo Martinelli aus seinen Kastanien. Während Marco Conedera sich vom Schreibtisch aus mit der Kastanie auseinander- und für sie einsetzt, muss Edo Martinelli sie anfassen, sammeln, sortieren, sie kochen und braten und darüber erzählen. Es ist dieses kindliche Vergnügen, das ihm die Arbeit so viel leichter macht. Das mag komisch oder verschroben klingen. Die Kastanien aber machen aus Edo Martinelli einen glücklicheren Menschen.

Ursprung der Gattung Kastanie
Die Kastanien gehört zur Familie der Buchengewächse. Sie entstanden wahrscheinlich am Ende der Kreidezeit vor etwa 80 bis 65 Millionen Jahren, entwickelten viele Arten und waren auch auf dem europäischen Kontinent beheimatet. Während der Eiszeiten verschwanden die meisten Arten und zogen sich nach Kaukasien und Südeuropa zurück. Die Kastanienkultur entstand vor ungefähr 2.600 Jahren unter dem Einfluss der asiatischen, griechischen und römischen Kulturen. Bis 100 nach Christi wurde die Kastanie auf der Alpensüdseite zur beherrschenden Baum- und Kulturart. Erst mit der wachsenden Bevölkerung, die eine dichtere Besiedlung auch in den Höhenlagen nötig machte, erlangte die Kastanie ab dem 13. Jahrhundert ihren Status als Haupternährungsquelle in der südalpinen Landschaft.

Kastanien und Weltmarkt
Esskastanien werden nicht nur in Europa gegessen, sondern auch in Asien konsumiert. Nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO wurden im Jahr 1999 weltweit rund 535.000 Tonnen Esskastanien produziert. Den größten Anteil daran hatten Südkorea und China, die 45 Prozent der Weltproduktion ernteten. Italien lieferte 14,7 Prozent, die Türkei 13,1 Prozent. Die Angaben der FAO über die Schweizer Kastanienproduktion sind widersprüchlich. Während die Organisation ihren Anteil für 1999 mit 0,04 Prozent oder 200 Tonnen angibt, sprechen andere Quellen der FAO von 886,000 existierenden Kastanienbäumen in der Schweiz und einer Produktion von 7.500 Tonnen.