Heilige, dreckige Mutter Ganga

Der Ganges ist den Indern heilig. In Varanasi nehmen bis zu 60.000 Menschen am Tag ein rituelles Bad. Das hindert die Stadtväter freilich nicht, ihre Fäkalien in den Fluss einzuleiten.

Die Bürde, die mit seinem Kampf für die Reinhaltung des Ganges verbunden ist, spürt Veer Bhadra Mishra jeden Tag. Sie lastet bereits auf ihm, wenn er nach dem Aufstehen von seinem hoch über dem Fluss stehenden Haus auf den Strom blickt, der sich an den Badestufen von Varanasi vorbeischiebt, dieser vielleicht heiligsten, im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh liegenden Stadt Indiens.
Schon vor dem Sonnenaufgang herrscht am Ufer dichtes Gedränge. Frauen in nassen Saris beten im Wasser. Hagere Sadhus strecken ihre Hände gen Himmel. Daneben baden Asketen, Teenager, Pilger.
Für all diese Menschen empfindet der Leiter des Sankat Mochan Tempels eine schmerzliche Zuneigung. Weil sie wie er "Mutter Ganga" als Quelle des Lebens verehren. Weil die Hindus mit ihren Gebeten eine Tradition bewahren, die viele Jahrtausende zurückreicht. Und weil sie mit diesem Ritual leichtsinnig ihre Gesundheit aufs Spiel setzen.
Mythologisch betrachtet gilt der Ganges als rein. Faktisch ist er eine dreckige Kloake. Unterhalb seines Fensters schwimmen über 50.000 Kolibakterien in 100 Milliliter Wasser. Schuld daran ist ein riesiger Sturzbach aus Fäkalien, Müll, Plastik und verrottetem Gemüse, der sich aus der wachsenden Vorstadt ein Kilometer flussaufwärts in den Ganges ergießt.
Der 63-Jährige kennt die Gefahren dieser Fracht. Schließlich ist der weißhaarige Mann nicht nur Tempelvorsteher, sondern auch Professor für Wasserwirtschaft an der „Banaras Hindu Universität“. Zwei Ämter, die nicht unterschiedlicher sein könnten und ihn jeden Tag aufs Neue in ein Dilemma stürzen.
Für den Ingenieur Mishra sind die Kolibakterien Indikatoren für Wasserverschmutzung. Der Gläubige Mishra will davon jedoch nichts wissen. Die Vorstellung die heilige "Mutter Ganga" könnte verunreinigt sein oder krank machen, kommt einem Sakrileg gleich. Und so pilgert der Mensch Mishra jeden Morgen an den Fluss. Dort setzt er sich, hält betend inne, lässt sich in das braune Wasser gleiten und taucht unter, weil "mein Tag ohne ein heiliges Bad unvollständig wäre".
Es ist dieser Widerspruch, der Veer Bhadra Mishra zu einem ungewöhnlichen Engagement bewog. 1982 gründete er die "Sankat Mochan Foundation" - eine der wenigen Umweltorganisationen, die für die Reinhaltung des Ganges kämpft. Das hat ihm die Sympathien der Bevölkerung eingebracht sowie den Titel "Heroe des Planeten" (Time-Magazin). Und es hat ihn - notgedrungen - zum Gegenspieler der indischen Bürokratie gemacht.
"Sie behandeln uns schlimmer als Tiere", sagt Veer Bhadra Mishra über jene, die er für die Verschmutzung des Ganges verantwortlich macht: die Zentralregierung in Neu Delhi, das Umweltministerium des Bundesstaates Uttar Pradesh und dessen Wasserbehörde "Jal Nigam".
Noch 1984 hatte Rahjiv Gandhi als Ministerpräsident die Säuberung des 2.525 Kilometer langen Stromes zur nationalen Aufgabe erklärt. In einem groß angelegten „Ganges Aktionsplan“ sollten die Abwässer geklärt werden. In 25 Städten wurden in einer ersten Phase für 1,2 Milliarden Mark Klärwerke, Kanäle und Pumpanlagen gebaut; allein in Varanasi mit seinen 1,2 Millionen Einwohnern 40 Millionen US-Dollar investiert. Der Ganges jedoch ist nicht sauberer geworden.
"Dem Fluss wurde eine Medizin verordnet ohne vorher eine Diagnose zu stellen", kritisiert Veer Bhadra Mishra. Jetzt plant das von der Regierung ins Leben gerufene National River Conservation Directorate (NRCD) in einer zweiten Phase mit noch mehr Geld "die gleichen Fehler zu wiederholen". Das will der Wasserbauingenieur verhindern.
Um seine Vorwürfe zu untermauern, ruft der hochgewachsene Mann einen Fährmann heran. Auf dem Weg zum Ufer eilen ihm Menschen entgegen, beugen sich hinab, berühren seine Füße. Als Zeichen des Respekts.
Der Mahantji, wie die Inder den Tempelvorsteher ehrfürchtig nennen, ist eine der wichtigsten religiösen Führer in Varanasi. Seit über 400 Jahren leitet seine Familie den Sankat Mochan Tempel. Zu Ehren des Poeten Tulsi Das gebaut, gilt Veer Bhadra Mishra als dessen spiritueller Erbe.
Langsam gleitet das Boot an den Badestufen entlang; vorbei an Frauen in bunten Saris, badenden Männern, plantschenden Kindern, im Gebet versunkenen Menschen.
Im Hintergrund erhebt sich Varanasi. Dieses gebrechliche Durcheinander aus Palästen, Hütten, Kuppeln und Tempeln. Ein dichtes Steingemisch fast ohne Grün. Ununterbrochen ergießen sich neue Menschenmassen die engen Stufen zum Fluss hinab. Jeden Tag baden hier über 60.000 Menschen. "Nirgendwo auf der Welt wird ein Fluss mehr verehrt als in Varanasi", weiß Veer Bhadra Mishra.
Das liegt an der besonderen Bedeutung der 3.500 Jahre alten "Stadt des Lichts". Diesen Ort besuchten mit Brahma, Vishnu und Shiva drei der wichtigsten Hindugottheiten. Einmal in seinem Leben sollte deshalb jeder Hindu nach Banaras oder Kashi pilgern, wie die Stadt auch heißt. Um sich die Sünden abzuwaschen, um zu sterben.
In Varanasi betrachten Hindus den Tod als Geschenk. Weil jeder Sterbende hier dem ewigen Zyklus aus Tod und Wiedergeburt entkommen kann. Weshalb viele alte Menschen ihre letzten Tage in der heiligen Stadt verbringen. Entsprechend groß ist das Gedränge am "Manikarnika Ghat". Rund um die Uhr lodern die Feuer. Träger entladen mit Holz beladene Barkassen. Immer neue Toten werden aufgebahrt, die langsam in Rauch aufgehen. Am Ende übergeben die Angehörige seine Überreste dem Fluss.
"Mutter Ganga trägt schwer an dieser Tradition", sagt Veer Bhadra Mishra. Viele Leichen verkohlen unvollständig, andere werden unverbrannt versenkt. Der Fluss muss auch andere "Gaben" verkraften. Der Tempelvorsteher deutet auf Gläubige, die den Ganges mit Tonnen von Blumen beschenken. Gleich daneben reiben Wäscher Kleidungsstücke mit Seifenlauge ein.
80 Prozent der Wasserverschmutzung hat jedoch die Wasserbehörde zu verantworten, erklärt Veer Bhadra Mishra. Vom Boot aus sind die dicken Rohre gut zu erkennen. Eine dunkle Brühe aus Exkrementen und Müll strömt in den Fluss. Dass es nicht wie in einer Kläranlage stinkt, ist wohl nur der ungeheuren Selbstreinigungskraft des Ganges zu verdanken. Trotzdem: Die Einleitungen dürfte es nach dem  "Ganges Aktionsplan" nicht mehr geben. Vier Pumpstationen waren zwischen 1986 und 1993 mit kräftigeren Motoren ausgestattet worden, um das aus der höher gelegenen Altstadt in Richtung Ufer fließende Abwasser aufzufangen und in den hinter der Wasserscheide liegenden Hauptsiel zu pumpen.
Die Elektromotoren jedoch stehen still. Wie so oft. Täglich bricht in Varanasi das Stromnetz zusammen. Dann fließen die Ausdünstungen der Stadt wie früher in den Fluss. Von der Energieknappheit sind auch die zwei alten Klärwerke und die neu errichtete hochmechanisierte Anlage betroffen. Ohne Elektrizität funktioniert keine der drei. Schlimmer. Durch den ausbleibenden Abwasserzufluss sterben die Bakterienkulturen in den Klärwerken ab. Die Fäkalien fließen nahezu ungeklärt durch die Anlage und dann flussabwärts in den Ganges. Dort enthält das Wasser 15.000 Mal mehr Kolibakterien als erlaubt. Die Anwohner, die auf das Ganges-Wasser angewiesen sind, leiden unter Hautausschlägen, Cholera, Hepatitis und Durchfall. Auf ihren mit dem "geklärten" Wasser bewässerten Felder wachsen riesige Kartoffeln, die kurz nach der Ernte verfaulen.
Das interessiert die Wasserbehörde Jal Nigam kaum. Lange Jahre verkauften sie ihre Investitionen als großen Erfolg. Bis Veer Bhadra Mishra ein eigenes Labor einrichtete, Messreihen startete, dem Ganges zahlreiche Proben entnahm und analysierte. Nach drei Jahren konnte er lückenlos nachweisen, dass der Ganges Aktionsplan in Varanasi ein wirkungsloser Schlag ins Wasser gewesen ist.
Inzwischen werden seine Ergebnisse von unabhängigen Studien bestätigt. Der Rechnungsprüfer der indischen Regierung fällte ein verheerendes Urteil über den Ganges Aktionplan. Dieser "hat nur 39 Prozent seines eigentlichen Zieles erreicht", schreibt P. Narayana Murty, der Direktor der Studie, im Dezember 2000. Als Gründe dafür nennt er Konstruktionsfehler, falsches Management, mangelnde Wartung und eine häufig fragliche Technologie, "die der Einleitung von Bakterien nicht in ausreichendem Maße Einhalt gebieten konnte".
Diese Bestätigung erfüllt Veer Bhadra Mishra  mit Genugtuung, reicht ihm aber nicht. "Wir brauchen eine radikale Abkehr vom bisherigen Konzept". Wie das gehen kann, hat er mit dem US-Amerikaner Oswald Green für Varanasi entwickelt. Der Wissenschaftler aus Kalifornien gilt als Pionier der stromlosen Klärtechnik. Seine in den USA gebauten Klärwerke säubern das Abwasser mit der Hilfe von Algen, Sauerstoff und Licht.
Das Konzept soll auch in Varanasi eingesetzt werden. Um ihre Idee zu skizzieren, zieht Veer Bhadra Mishra einen Stadtplan aus der Schublade. Mit dem Bleistift jagt er darüber hinweg, markiert die nur sporadisch funktionierenden Pumpstationen und die Standorte der alten Klärwerke. Dann zeigt sein Bleistift auf einen toten Seitenarm des Ganges. 20 Kilometer südöstlich von Varanasi soll ihre Anlage entstehen. "Kein Mensch müsste enteignet, keiner vertrieben werden", erklärt Mishra ein Detail, das ihm besonders wichtig ist.
In der Stadt selbst will er das von den Briten Anfang des 20. Jahrhunderts erbaute Kanalsystem erweitern. Das wichtigste Siel soll an den Badestufen entlang geführt werden. Es würde alle Richtung Fluss fließenden Abwässer auffangen und die energiefressenden Pumpstationen fortan unnötig machen.
Unabhängige Experten waren von dem radikalen, aber einfachen Konzept begeistert. Die Stadtväter von Varanasi votierten geschlossen für die Verwirklichung dieses Planes und selbst einige Tausend Bürger - in Indien durchaus ungewöhnlich - plädierten per Unterschrift für das Konzept. Nur die für den Ganges Aktionsplan zuständigen Behörden reagierten wie empfindliche Haut auf ein Bad im Ganges.
Zuerst versuchten das Umweltministerium des Bundesstaates und ihre Wasserbehörde Jal Nigam das alternative Konzept totzuschweigen. Veer Bhadra Mishra musste 1998 das höchste Gericht des Bundesstaates in Allahabad anrufen, damit der Plan offiziell zur Kenntnis genommen wurde. Eine Kommission müsse entscheiden, urteilten die Richter, ob das Abwasser in Varanasi künftig nach Mishras Plänen oder denen der bundesstaatlichen Wasserbehörde Jal Nigam geklärt werden solle.
Seit diesem Urteil tobt zwischen dem National River Conservation Directorate (NRCD), dem Umweltministerium von Uttar Pradesh und der Wasserbehörde Jal Nigam einerseits sowie Mishra und der Stadtverwaltung von Varanasi andererseits eine Art Kleinkrieg. Austragungsort des Streits: Medien und Gerichte.
Weil sie nach dem Gerichtsurteil den alternativen Plan zur Kenntnis nehmen mussten, lud das NRCD Veer Bhadra Mishra vor immer neue Kommissionen, damit er dort seine Pläne erläutere. Im August 2001 ließ man ihn von dort jedoch wissen, dass man die Pläne der Wasserbehörde Jal Nigam für "mehr praktikabel" als die seinen halte. Verwundert war Mishra darüber nicht. Schließlich geht der Streit längst nicht mehr um ein Abwasserkonzept allein, sondern vor allem um die grundsätzliche Frage, wer darüber zu entscheiden hat.
Theoretisch erlaubt ein 1996 beschlossener Verfassungszusatz den Gemeinden und Städten, ihr Abwasser eigenständig zu verwalten. In der Praxis aber wollen weder Bundesstaaten noch Zentralregierung die "Wasserhoheit" und die damit verbundenen Pfründe abgeben. Ein Votum für Mishras Pläne würde der lokalen Eigenständigkeit in der Praxis eine Presche schlagen. Entsprechend zähen Widerstand leisten seine Gegner.
Mishra weiß das. Doch das ständige Anrennen gegen die Mauern der Bürokratie macht mürbe. Während die Staatsbürokratie auf zahlreiche Mitarbeiter, Anwälte und Parteimitglieder zurückgreifen kann, verfügt der Mahantji nur über wenige Unterstützer und noch weniger Kapital. Neben seinen zahlreichen Verpflichtungen als Tempelleiter, schreibt er Eingaben, beantwortet Anfragen, telefoniert mit Journalisten und Politikern. Das geht zuweilen über seine Kraft. Manchmal, gesteht er mit müder Stimme, möchte er einfach aufhören. Sich wieder seinen Hobbys, der Musik und seiner religiösen Aufgabe zuwenden.
Doch hinschmeißen kann er nicht, auch wenn er manchmal damit kokettieren muss. Der Kampf für einen sauberen Ganges begreift er als heilige Pflicht. "Wenn wir unser Wasser nicht mehr trinken, unsere rituellen Bäder nicht mehr nehmen können, werden wir unsere Identität verlieren", sagt er und offenbart damit den eigentlichen Beweggrund für sein Engagement.
Der Ganges ist ihm Wurzel hinduistischen Glaubens, Begegnungsstätte mit Gott und Ort religiöser Traditionen. Dieses uralte Erbe sieht er durch die Verschmutzung gefährdet. Nur deshalb interessiert er sich für den Umweltschutz. Der Mahantji ist kein grüner Revolutionär, sondern ein konservativer, religiöser Mensch. Demonstration oder Protestaktionen sind ihm so fremd wie Indiens Umweltorganisationen, mit denen er nicht verglichen werden will.
Doch gleichzeitig ist er einer, der sich Widerständen nicht einfach beugt. Schon als junger Mann hat er Tradition und mahnende Stimmen ignoriert, um als erster in seiner Familie Naturwissenschaften studieren zu können. Heute legt er sich mit der Staatsbürokratie an. „Sie erzählen uns Lügen und wir sind glücklich. Sie betrügen das Gesetz und wir lassen sie damit durchkommen“, sagt Veer Bhadra Mishra über deren arrogante Selbstbedienungsmentalität. Er will sie nicht mehr gewähren lassen.
Nun geht der Streit in eine neue Runde. Gegen die Entscheidung des National River Conservation Directorate (NRCD) hat die Stadtverwaltung vor dem Obersten Gerichtshof in Neu Delhi Widerspruch eingelegt. Die Richter haben der Klage statt gegeben und die Entscheidung des NRCD bis zur endgültigen Entscheidung auf Eis gelegt.
"Vielleicht werde ich zu Lebzeiten noch in einem sauberen Ganges baden ", sagt der 63-Jährige. Das wäre ein Wunder. Doch der Mahantji glaubt daran wie an die Kraft der Wunder selbst. Die Geschichte weiß er auf seiner Seite. "Wer hat noch vor einigen Jahren gedacht, dass Nelson Mandela einmal südafrikanischer Präsident werden würde", sagt er zum Abschied "und wer, dass die Berliner Mauer einmal stürzen würde?" Eben.