„Kein giftiger Rotschlamm an unseren Produkten“

Interview mit Peter Camin, Konzernbetriebsratsvorsitzender des norwegischen Aluminiumkonzerns Norsk Hydro in Deutschland, über die Rotschlamm-Katastrophe in Ungarn, die Umweltrisiken der Aluminiumproduktion und globale Wertschöpfungsketten.

Herr Camin, am 4. Oktober kam es zu einem Dammbruch auf einer Rotschlammdeponie in Ungarn, bei der zehn Menschen starben und 150 verletzt wurden. Haben Sie die Fernsehbilder überrascht?
Eine solche Katastrophe war für mich unvorstellbar. Einen Dammbruch mit einer Flutwelle, in der Menschen ertrinken und ganze Häuser weggespült werden, hatte ich nicht erwartet. Wohl aber rechne ich mit Leckagen in alten Deponien, mit steigenden Krebszahlen und mit landwirtschaftlichen Flächen, die aufgrund von jahrelanger Kontamination durch Schwermetalle wie Cadmium oder Quecksilber irgendwann aufgegeben werden müssen.

Wie gefährlich ist Rotschlamm?
Rotschlamm hat zwei Komponenten, die giftig sein können: die äußerst ätzende Natronlauge, die man für die Aluminiumgewinnung braucht, und die enthaltenen Schwermetalle. Dort, wo Bauxit heutzutage abgebaut wird, meist in tropischen Regionen im Tagebau, werden Schichten mit bis zu 50 Prozent Bauxit-Anteil gefördert. Diese Schichten enthalten auch Arsen, Quecksilber, Cadmium und radioaktives Uran und Thorium. In der Erde sind die Schwermetalle gebunden und ungefährlich. Wenn Bauxit mit Natronlauge versetzt wird, werden die Schwermetalle im Rotschlamm hoch flüchtig und damit zu einem Gesundheitsrisiko für Menschen und Tiere. Löst man die Natronlauge aus dem Rotschlamm allerdings wieder heraus, werden die Schwermetalle gebunden und sind dann ungefährlicher.

Welche Fehler wurden in Ungarn gemacht?
Die ungarischen Deponien sind in der Regel sehr alt, unseren Sicherheitsstandards würden sie nicht genügen. Doch Behörden und Anwohner kümmern sich selten darum, weil die Gefahr nicht offensichtlich ist. Das rächt sich jetzt.

Können wir in Deutschland davon ausgehen, dass der hier deponierte Rotschlamm sicher gelagert wird?
Wir haben in Deutschland mit der AOS Stade nur noch ein Unternehmen, das Aluminiumoxid und damit auch Rotschlamm produziert. Das Unternehmen gilt als vorbildlich bei der Deponierung des Rotschlamms und pflegt einen transparenten Umgang mit Anwohnern und Naturschutzverbänden. Wir können allerdings nie sicher sein, ob unsere Altdeponien auf ewig halten. Ungarn hat beispielsweise im Zweiten Weltkrieg Aluminiumoxid für die Kriegsproduktion nach Deutschland geliefert. In der Zeit ist auch ungarischer Rotschlamm auf deutsche Deponien gekommen, nach Schwandorf in der Oberpfalz und Lauta in der Lausitz. Der lagert dort immer noch.

Und bleibt gefährlich?
In den deutschen Deponien lagern Rotschlämme aus sechs Jahrzehnten Aluminiumproduktion in unterschiedlichen Zusammensetzungen. Oft ist gar nicht mehr zu bestimmen, was wirklich drin ist. Die EU hat eine Regelung erlassen, wonach alle Altdeponien in den kommenden Jahren saniert werden müssen. Sanieren bedeutet, dass man den Rotschlamm hermetisch von seiner Umwelt abriegelt. Entgiftet wird er damit aber nicht. Wir haben beispielsweise bei uns im Konzern eine Altdeponie in Schwandorf. Dort wurde vom Zweiten Weltkrieg bis in die 90er Jahre hinein Rotschlamm abgelagert. In der Deponie gab es Leckagen und manchmal ist giftiger roter Staub über die Straßen geweht. Die Schwandorfer haben sich gewehrt. Schlussendlich musste Norsk Hydro für viele Millionen Euro sanieren und die Deponie hermetisch abdichten. Wahrscheinlich ist Schwandorf heute die am besten gesicherte Rotschlamm-Deponie der Welt.

Gibt es weitere Altlasten?
Sowohl in Deutschland als auch in der EU ist der Handlungsbedarf groß. Allein in Ungarn liegen schätzungsweise 50 Millionen Tonnen. In Deutschland dürften zwischen 80 und 100 Millionen Tonnen Rotschlamm auf verschiedenen Deponien lagern. Das ist also fast hundert Mal so viel, wie jetzt in Ungarn freigesetzt wurde. Weltweit könnten es bis zu 1,5 Milliarden Tonnen Rotschlamm sein.

Wie wird man als Gewerkschafter zum Rotschlamm-Experten?
Das Thema verfolgt mich seit fast 30 Jahren, seitdem ich mich als Betriebsrat mit Aluminium und Umweltschutz beschäftige. Ein weiterer Berührungspunkt waren die Tätigkeiten von Norsk Hydro und anderen Aluminiumkonzernen im Amazonasgebiet in Nordbrasilien, wo riesige Rotschlammdeponien an der Küste entstanden sind und weiter entstehen. Dort bezieht Norsk Hydro Aluminiumoxid aus der größten Aluminiumoxidfabrik der Welt, der Alunorte.

Dort brechen auch Dämme und Rotschlamm ergießt sich über die Dörfer? 
Nicht in dem Ausmaß wie in Ungarn. Es sind allerdings außergewöhnliche Bedingungen, mitten im Regenwald Rotschlamm-Deponien zu betreiben. In der Trockenzeit stauben die Deponien, der Staub ist aggressiv und toxisch. Man sollte ihn wirklich nicht einatmen. Und in der Regenzeit kann der Wasserpegel in einer Woche um sechs Meter steigen, das ist eine extreme Herausforderung für die Dämme. Dann kommt es immer wieder zu Leckagen und Überschwemmungen, die sich in die Flüsse ergießen. Brasilianische Kollegen haben mir mehrere Videos von solchen Unglücken zugeschickt, die ich an die Konzernzentrale in Oslo weitergeleitet habe. Das Management vor Ort hatte die Umweltprobleme teilweise vertuscht.

Das heißt, die deutsche Aluminiumindustrie kauft ihren Rohstoff Aluminiumoxid in tropischen Ländern ein und lässt den toxischen Rotschlamm bei den Produzenten liegen?
Die Produktionsabläufe machen so auch Sinn. Um Aluminiumoxid zu produzieren, braucht man neben Bauxit und Natronlauge sehr viel Energie. Es wäre aufwendiger und teurer, das Bauxit erst nach Deutschland zu schaffen und das Aluminiumoxid hier heraus zu lösen. Mit viel internationalem Druck haben Naturschutzverbände erreicht, dass der abgeholzte Regenwald heute wieder aufgeforstet wird. Doch das Problem mit dem toxischen Rotschlamm ist nach wie vor ungelöst. Wie bei allen Formen der Metallerzeugung, bei denen der Erde Erze abgetrotzt und mittels chemischer Prozesse herausgelöst werden, hinterlassen wir den zukünftigen Generationen einen Ballast, der oft für eine lange Zeit giftig ist. Das ist kein schönes Gefühl für jemanden, der in der Aluminiumbranche arbeitet.

Sie diskutieren auf Workshops wie auf dem Weltsozialforum mit Kollegen aus vielen Teilen der Welt über die ökologischen und gesundheitlichen Risiken der Aluminiumproduktion. 
In den Erzeugerländern gibt es bisher nur wenig Problembewusstsein. Viele wissen nicht, wie gefährlich beispielsweise Arsen fürs Grundwasser ist. Tatsächlich sind kurz nach dem letzten Workshop während der Regenzeit bei Alunorte Dämme gebrochen und es ist Rotschlamm aus der Deponie ausgelaufen. Die brasilianische Umweltbehörde hat diesmal aber sehr schnell reagiert und hohe Auflagen und Strafgelder erlassen.

Sie sprechen offen über die Risiken der Aluminiumproduktion. Machen Sie sich im Konzern nicht unbeliebt?
Den Ruf eines Nestbeschmutzers hat man schnell. Nach dem Workshop in Brasilien gab es diese Vorwürfe aus dem Aluminiumverband. Aber das Thema holt uns wie jetzt mit dem Unglück in Ungarn ja ein und kann dann natürlich auch Auswirkungen auf Arbeitsplätze haben. Den Beschäftigten in der Aluminium-Branche ist es nicht egal, was sie machen. Sie wollen an einem Produkt arbeiten, das möglichst sinnvoll und nachhaltig ist. Dagegen steht immer die Existenzangst, dass Aufträge wegbrechen könnten, wenn die Branche kritisiert wird. Das ist eine schwierige Gratwanderung, auch unter Betriebsräten. Wenn Du das Problem allerdings langfristig ernst nimmst und benennst, dann akzeptieren die Kollegen das meistens auch. Die wollen sich nicht selbst in die Tasche lügen.

Tut die Branche genug, um nachhaltiger und ressourcenschonender zu produzieren?
Bei Norsk Hydro ist die gesamte Prozesskette verpflichtet, sich nach ISO-Normen zertifizieren zu lassen und Menschenrechten, Arbeitsschutz- und Umweltbestimmungen zu genügen. Das gilt auch für die Zulieferer. Wir sind vor der Verarbeitung das letzte Glied in der Kette und haften dafür, dass an unseren Produkten kein giftiger Rotschlamm klebt. Wir müssen auf dem Markt dafür gerade stehen, auch gegenüber anderen Produkten oder Werkstoffen, die in Konkurrenz zu Aluminium stehen. Da muss der ökologische Rucksack stimmen. Der Autohersteller, der seine Autos mit Aluminium leichter macht, weniger CO2 verbraucht und sich dadurch ein grünes Image gibt, will seine Öko-Bilanz nicht mit Rotschlamm belasten.

Der Druck auf die Unternehmen nimmt zu. Lassen sich die Risiken weiter minimieren?
Ein wichtiger Schritt wäre, die Natronlauge komplett zu neutralisieren, bevor der Rotschlamm endgelagert wird. Dann ist der Rotschlamm nicht mehr ätzend und die Schwermetalle sind gebunden. Eine gute Eigenschaft hat Rotschlamm. Er kann dauerhaft CO2 binden, das könnte eine Zukunftsoption sein, da man in diesem Verfahren zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen würde. Man bindet CO2 und neutralisiert und entgiftet den Schlamm.