Weisses Gold - Shrimpszucht in Ecuador

Die einstige Delikatesse wird zum Ramschartikel. Der Preis des billigen Luxus: Mangrovenwälder verschwinden, Fischbestände nehmen ab, Küsten werden zu Krisenregionen.

Líder Góngora kennt die Launen des Pazifiks. Stoisch steht der Chef der Umweltorganisation „Fundación de Defensa Ecológica“ (Fundecol) am Bootsende, den Griff des 75 PS-Yamaha-Aussen¬borders in der Hand und wischt sich das salzige Meerwasser aus dem Gesicht. Zwischen der Flußmündung des Bolivars und dem kleinen Boot liegen 500 Meter gefährliche Brandung.
Líder Góngora studiert die Wellen und wartet darauf, daß die Wellenberge zusammen¬stürzen, sich milchiger Schaum über das Wasser legt und der Ozean für einen Atemzug wehrlos darniederliegt. Dann jagt er über die brodelnde Ebene hinweg auf die nächste Welle zu und lässt sich von ihr wie ein Surfer in den Bolívar gleiten.
An den Ufern des Flusses staksen Reiher, in den grünen Baumwipfeln sitzen Pelikane, ab und zu kreischt eine Möwe, während unzählige rote Krebse über das sumpfige Ufer stieben. Doch die friedliche Stimmung ist nichts weiter als eine romantische Fata Morgana, so wie die Mangroven entlang des Stromes. Gerade mal zwei bis drei Meter breit stehen die Bäume noch. Dahinter ist der urwüchsige Wald gerodet, wurden Becken ausgehoben, um darin Krabben zu züchten - «weisses Gold», wie die Farmer die «Shrimps» wegen ihrer Farbe nennen und weil der Handel damit kaum weniger lukrativ ist als einst das Geschäft mit dem Edelmetall.
In nur zwanzig Jahren hat sich in Ecuador ein riesiger Industriezweig entwickelt. Heute ist das südamerikanische Land der zweitgrösste Shrimpsproduzent der Welt. Von der Zucht lebt fast jeder fünfte Bewohner der Küstenprovinzen.
Der Krabbenboom ist kein ecuadorianisches Phänomen. Er findet an vielen tropischen und subtropischen Küsten statt: in China, Thailand, Indien oder Bangladesh, in Honduras oder Mexiko. Inzwischen werden jährlich über 930.000 Tonnen Crevetten im Wert von zehn Milliarden Mark gezüchtet.
Die positiven Auswirkungen des Shrimpsbooms registrieren zuallerst die Konsumenten. Die einstige Luxusware hat sich in der Schweiz zu einem Grundnahrungsmittel gewandelt. Wurden Cretten früher nur in Feinkostgeschäften vertrieben, gibt es sie heute bereits in kleinen Supermärkten. Die Regale sind voll mit Eismeershrimps, Nordseekrabben, Jumbo-Crevetten, Gambaschwänzen. Selbst Fast-Food-Ketten werben inzwischen mit Shrimpswochen.
Die Kehrseite des Booms ist dagegen unbekannt. Die massiven Investitionen verändern die Küstenregionen - mit weitreichenden ökologischen und ökonomischen Folgen.
Galten diese Landstriche noch vor wenigen Jahren als wirtschaftlich wertlos, weshalb sie der ärmeren Bevölkerung vorbehalten blieben, reissen sich die Interessenten heute darum. Inzwischen tobt ein Landkonflikt, der Gerichte und Parlamente beschäftigt, der aber auch mit Fäusten und Pistolen geführt wird und bereits viele Tote gekostet hat. Aus ehemals naturbelassenen Gebieten sind Krisenregionen geworden.
Das gilt auch für den Norden von Ecuador, die Region Muisne, deren Entwicklung als Beispiel für die weltweite Auseinandersetzung gesehen werden kann. Hier hat Lider Gongora die Umweltorganisation Fundecol gegründet, deren Aktivisten sich gegen die Expansion der Shrimpsfarmer engagieren. Regelmässig fährt der Chef der Umweltorganisation Patrouille, um die illegale Abholzung der Mangroven zu dokumentieren.
Immer wieder führt ihn sein Weg zu den Muschelsammlern nach Bolivar, auf die Insel zwischen Süsswasser und Meer, ans Ende der Welt, das man nur mit einem Ritt durch die Wellen erreicht und dessen Bewohner um ihre Existenz bangen, seit die Zuchtfarmen den Ort wie einen Belagerungsgürtel umschliessen.


Der Scheinwerfer lockt die Krabben an. Sie springen der Lichtquelle entgegen, bis der Sog des abfliessenden Wassers ihre kleinen Körper erfasst, sie fortreisst und durch das geöffnete Wehr spült. Ein Meer aus weissen Leibern wimmelt in den Maschen, deren rote Augen in der Dunkelheit wie eine endlose Lichterkette leuchten. Dann aber fährt eine Kelle zwischen das Wuseln, wirft die Krustentiere in ein Gemisch aus Wasser, Eis und Sodium Metabisulfat, indem sie ihr Leben aushauchen, bevor sie in einem Plastiksarg aus Eis landen.
Wenn Eric Notarianni über die Ernte erzählt, dann klingt das wie eine, wenn auch brutale, Liebeserklärung an die zehnfüssigen Meerestiere mit dem langgezogenen Kopf, den zwei Fühlern und dem köstlichen Fleisch. Verständlich. Das Leben des 55jährigen Schotten ist untrennbar mit den Krabben verbunden. Er begann in der ecuadorianischen Shrimpsindustrie zu arbeiten als diese den Namen noch nicht verdiente. Die Boomjahre in den 80er und 90er Jahren erlebte er zeitweise als Vizepräsident der «Nationalen Kammer der Aquakultur». Heute leitet er die Sociedad Nacional de Galapagos (SONGA), eines der grossen Unternehmen im Crevettenbusiness.
Eine Bilanz zieht er mit britischem Unterstatement. Ecuador zählt inzwischen 2.000 Shrimpsfarmer, die etwa 200.000 Hektar, eine Fläche, so gross wie der Kanton St.Gallen bewirtschaften. Im vergangenen Jahr wurden 150.000 Tonnen Krabben produziert, 80 Prozent davon exportiert, über die Hälfte in die Vereinigten Staaten, der Rest nach Asien und Europa. Fast 900 Millionen Dollar hat der Handel mit dem weissen Gold eingebracht, mehr Devisen erwirtschaften nur Öl und Bananen.
Die Ausichten scheinen gut. Die Nachfrage nach Crevetten steigt. Nordamerikaner und Japaner verspeisen bereits zwei bis vier Kilo im Jahr. Die Deutschen bringen es immerhin auf ein Kilogramm, allerdings oft nur die billigeren Nord- und Eismeerkrabben.
Von seinem Schreibtisch aus sieht Eric Notarianni, wie seine Mitarbeiter durch die gekachelte Produktionshalle eilen, an langen Tischen stehend Shrimpsköpfe abtrennen, Sortiermaschinen bedienen oder Garnelen wiegen, mit Wasser begiessen und in Pappkartons abpacken.
Aus dem Fenster zur Linken blickt er über eine künstliche Seenplatte aus Kanälen, Abflüssen und Becken, die alle rund 300 Meter auf 120 Meter messen. Die Fläche glitzert im Sonnenlicht und endet erst am Horizont. 5000 Hektaren sind  keine Kleinigkeit.
Doch erst die Fahrt im Geländewagen lässt die Dimension wirklich begreifen. Teich reiht sich an Teich, eine Einöde aus Becken, Gräben, Wegen, in der sich keine Menschenseele zeigt, weil Shrimps nicht die Hege von Ackerpflanzen benötigen.
Hier in der Region um Guayaquil werden über 2/3 aller Garnelen gezüchtet, weil die Natur den Standort begünstigt. Auf der einen Seite transportiert der Guayas Süsswasser in das Delta südlich von Guayaquil, auf der anderen Seite drückt der Pazifik Meerwasser in das sumpfige Land. In dieser salzhaltigen und nährstoffreichen Mischung gedeihen die Crevetten am besten.
Eric Notarianni unterscheidet neben der seit Jahrhunderten praktizierten extensiven noch die semi-intensive und die intensive Zucht. Als Gradmesser dient die Zahl der Larven, die pro Hektar ausgesetzt werden. In traditionell bewirtschafteten Becken sind es 25.000 Larven pro Hektar, in modernen Farmen zwischen 100.000 und 600.000 Larven. Entsprechend mehr wird geerntet. Statt 500 Kilogramm können es bis zu 20.000 Kilogramm sein.
Je mehr Larven aber in den Becken schwimmen, desto höher ist der Kapitaleinsatz: für Zusatzfutter, für Dünger zur Bildung von Plankton, für Belüfter, Dieselpumpen und Treibstoff, um Sauerstoff und das Wasser in den Becken auszutauschen.
Während viele asiatischen Farmen intensiv züchten, werden die ecuadorianischen Anlagen semi-intensiv betrieben. «Es gibt kaum Produzenten auf der Welt, die weniger Larven pro Hektar aussetzen als wir», erklärt Eric Notarianni. Das hat Vorteile.
Zum einen können die Becken länger genutzt werden. Denn intensiv arbeitende Farmen sind nach zehn Jahren so verschmutzt, dass sie aufgegeben werden müssen. In Ecuador hingegen existieren noch Becken, die dreissig Jahre alt sind, weiß der Schotte.
Das grösste Problem einer dichten Population liegt freilich in ihrer Anfälligkeit gegenüber Bakterien, Pilzbefall und Viren. Immer wieder brechen Epidemien aus. 1988 zerstörte ein Virus Taiwans Shrimpszucht, 1992 und 1993 führte der White spot Virus zu Ernteausfällen in Thailand und China. Die Regierung in Peking bezifferte den Verlust allein 1993 auf eine Milliarde US-Dollar.
Auch Ecuadors Garnelenindustrie blieb nicht verschont. Das Taura Syndrom Virus kostete die Farmer 200 Millionen US-Dollar. Rund 17.000 Hektar Anbaufläche mussten aufgegeben werden. Die Konsequenz war ein Exodus von Farmern in den Norden, in die letzte zuchtfreie Region Ecuadors.
Entsprechend gross ist die Furcht vor weiteren Epidemien. Bei geringsten Anzeichen einer Erkrankung greifen deshalb viele Züchter zu Antibiotika oder anderen Medikamenten. Doch während Eric Notarianni «keine Gefahr für Konsumenten und Umwelt sieht», warnt die Welternährungsorganisation FAO vor einem inflationären Gebrauch.

«Früher habe ich an einem Tag 350 Muscheln gefunden, heute bin ich froh, wenn es 100 sind», sagt Gladys Cortéz Castillo. Die Falten auf ihrer Stirn verraten ihre Wut. Die Präsidentin der Muschelsammler von Bolivar steht wie die anderen Frauen im Dreck. Den Körper nach vorn gebeugt, durchwühlt die 34jährige den Schlamm, aber die Muscheln sind seltener geworden, seit sich Shrimpsfarmer zu beiden Seiten des Bolivars angesiedelt haben und das Gros der Fläche inzwischen aus Zuchtbecken besteht.
T-Shirt und Hose sind schlammbeschmiert. Bei jedem Schritt versinken ihre Beine knietief im Untergrund. Gummihandschuhe schützen die rotlackierten Fingernägel und beugen einer unliebsamen Begegnung mit dem Froschfisch vor, der mit seinen Giftdrüsen die Haut verätzen kann, gottlob aber seltener vorkommt als die herumschwirrenden Moskitos.
Manchmal hasst Gladys Castillo ihre Arbeit. Für die 150 Muscheln in ihrem Korb wird sie 15.000 Sucres erhalten - fünf Mark für vier Stunden Arbeit, der Gegenwert von drei Kilo Reis.
Mit Wehmut denkt sie an die Zeit zurück, als sie in Esmeraldas, der grössten Stadt im Norden, als Kellnerin arbeitete. Bis ihr gekündigt wurde und sie zurück musste.
Nach Bolivar, wo die roten Blüten der Jacaranda¬bäume den Behausungen einen paradiesischen Anstrich verleihen und die Salsamusik die Ohren in süsse Watte packt. Die Holzhütten aber sind ohne Wasser, die Pforten der Kirche verschlossen, weil der Pfarrer nur einmal im Jahr den Weg nach Boli¬var findet. Selbst die Staats¬macht hat diesen Ort und seine 2.000 Einwohner vergessen. Der letzte Polizist ertränkte die Langeweile im Alkohol. Eines Tages verschwand er für immer. Viele der Einwohner sind ihm gefolgt, weil die Muscheln nicht zum überleben reichen, der Fisch im Fluss schwindet und es keine Arbeit gibt.
Das Dorf Bolivar stirbt. Langsam. Seine Bewohner ergeben sich der Lethargie. Oder dem Alkohol. Gladys Castillo nicht. Mit drei Dutzend Frauen hat sie die «Virgen de la lajas» gegründet. Wie Fundecol kämpfen sie gegen die Abholzung der Mangroven. Sie fordern, dass illegal errichtete Farmen geschlossen und aufgeforstet werden. Ihr Protest richtet sich auch gegen die schleichende Vergiftung ihrer Umwelt. Aus ihrer Holzhütte blickt die 34jährige auf die Abflussrohre der benachbarten Shrimpsfarm. Ihr Besitzer verklappt dort einen Cocktail aus Wasser, Chemikalien, Antibiotika, Fischmehl und Krabbenkot. Alle Farmen entlang des Flusses entledigen sich ihrer Abwässer nach dieser Methode.
Ob der Bolivar das Gemisch verkraften wird? Belasten die Chemikalien das Trinkwasser? Wie reagieren die Muscheln darauf? Alles Fragen, auf die Gladys Castillo keine Antwort weiss und die bei der 34jährigen Angst auslösen, weil manchmal tote Fische und Krabben auf dem Wasser treiben.
Ihrem Engagement liegt keine romantische Verklärung ihrer Umwelt zugrunde, wie sie so manch Ökologen zu eigen ist. Auch kennt sie die Zusammenhänge nicht zwischen globaler Abholzung und den Schäden für das Weltklima.
Aber Gladys Castillo spürt die Folgen. Täglich. Hautnah und schmerzhaft. Ohne dass ein soziales Netz sie auffangen würde. Weniger Mangroven bedeuten weniger Muscheln, folglich weniger Einnahmen, also Hunger und Not.
Die Shrimpsfarmer investieren auch in Gebieten, wo seit Jahrhunderten Reis angebaut wird. In der Region um Guayaquil etwa oder in Bangladesh oder in Indien. Mit jedem für den Export gebauten Shrimpsbecken geht Anbaufläche für die heimische Bevölkerung verloren. Im Krishna-Godavari-Delta, der Reiskammer der indischen Provinz Andhra Pradesh, wurden bereits 15 Prozent aller Reisfelder für die Zucht umgewandelt.
Das kostet auch Arbeitsplätze. Denn Reisbauern beschäftigen pro Hektar 50 Arbeiter, die Züchter kommen mit fünf Hilfskräften aus. Beides führt zu einem Exodus der Küstenbewohner, warnt Greenpeace. In der Stakhira-Region in Bangladesh wurden nach Angaben der Umwelt-organi¬sation inzwischen 120.000 Menschen, 40 Prozent der Bevölkerung, vertrieben.
Hinzu kommt, dass grösser werdende Zuchtbestände mehr Futter verbrauchen. Für ein Kilo Shrimps benötigen Züchter in Ecuador etwa zwei Kilo Zusatzfutter, in nährstoffärmeren Gebieten entsprechend mehr. Wichtigster Bestandteil ist Fischmehl. Greenpeace rechnet damit, dass zur Jahrtausendwende allein die asiatische Aquakultur ein Fünftel der jährlichen Fischmehlproduktion verbrauchen wird.
Bereits heute konkurrieren Kleinfischer in vielen Ländern mit den international operierenden Fangflotten. In Peru zum Beispiel, vor dessen Küste ein Grossteil des Bedarfs der Fischmehlindustrie gefangen wird, klagen Fischer über zurückgehende Fischbestände.
Ihre Existenz steht genauso auf dem Spiel, wie die von Gladys Castillo, der Muschelsammlerin aus dem 500 Kilometer nördlich gelegenen Bolivar. Die Mutter von drei Kinder aber will sich ihre Lebensgrundlage nicht zerstören lassen, zumindest nicht kampflos. Deshalb engagiert sie sich, wenn Fundecol mit der finanziellen Unterstützung der Schweizer Entwicklungsorganisation «Swissaid» Kahlschlagflächen aufforstet. Oder sie fährt in die Hauptstadt Quito, um mit anderen vor dem Präsidentenpalast zu demonstrieren, auch wenn sie dort Tränengaswolken und Schläge von Polizisten riskiert.
Ihr Engagement provoziert immer wieder Streit. Zuhause. Manchmal würde Glady Castillos Lebensgefährte ihr am liebsten den Mund verbieten, wenn sie mal wieder den Zorn der Farmer erregt. Er kennt die Argumente seiner Frau. «Aber sie vergisst, dass wir Männer früher nur als Fischer arbeiten konnten, aber keine Alternativen hatten.» Pablo Garcia Allosa arbeitet heute als Verwalter auf einer Garnelenfarm und verdient doppelt so viel Sucres wie seine Frau, etwa 140 Mark im Monat. Erst beide Einkommen zusammen ermöglichen dem Paar, Andrea,  die älteste der drei Kinder, auf die Oberschule nach Esmeraldas zu schicken, um der 14jährigen eine bessere Zukunft zu eröffnen.

Die Strasse entlang der Küste ist häufig nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Schlaglöchern. Geländewagen rumpeln nord- und südwärts, Busse ziehen Russwolken in ihrem Schlepptau. Abgetakelte US-Trucks transportieren Dieselaggregate und Caterpillarraupen, Bauholz und Benzin, Boote, Fischmehl, Lebensmittel. Achsen und Karosserien ächzen unter den Lasten.
Wenn der Chef der Umweltorganisation Fundecol Líder Góngora die Küstenstrasse nimmt, schiebt sich mit jedem vorbei¬fahrenden Kühltransporter die Realität brutal in sein Bewusstsein. Die Krevetten¬industrie ist auf dem Vormarsch - ungeach¬tet aller Widerstände von Seiten der Umwelt-schützer.
«In der Region Muisne haben Shrimpsfarmer bereits 90 Prozent der Mangroven gefällt», erzählt Fundecol-Chef Lider Gongora. Für die gesamte Küstenregion von Ecuador schätzt er, dass von ehemals 360.000 Hektaren zwei Drittel verschwunden sind. Bewiesen ist diese Zahl nicht. Nur die Marine verfügt über Satellitenfotos, deren Aufnahmen von 1995 lediglich den Einschlag von 54.000 Hektar belegen.
Weltweit aber wurden in nur einem Jahrzehnt fünf Prozent der Mangroven zerstört. Der Bestand ist auf insgesamt 20 Millionen Hektar gesunken und wird weiter sinken. Schliesslich wollen viele Ländern am «weissen Gold» verdienen. Indonesien will eine Million Hektar für Garnelenbecken roden, Länder wie Ghana, Tansania oder Nicaragua planen ähnliches.
In Ecuador hat sich die Einschlagsquote sogar noch erhöht, nachdem die Regierung 1985 erste Schritte für den Schutz der Mangroven beschloss. Damals hatte Lider Gongora noch gehofft, die Industrie mit juristischen Mitteln stoppen zu können.
Seine Augen blicken melancholisch auf ein Werbeplakat der Shrimpsindustrie, während er müde einige Gesetze aufzählt, die zum Schutz der Mangroven erlassen wurden. Das Decreto Ejecutivo von 1985 setzte eine Strafe von 30 Gefängnistagen fest für jeden ohne Genehmigung gefällten Baum. Ein Jahr später erklärte die Regierung 360.000 Hektar Land entlang der Küste zur geschützten Waldfläche. Schlie߬lich wurde 1994 mit dem Decreto Ejecutivo 1907 der Einschlag von Mangroven für einen Zeitraum von fünf Jahren vollkommen verboten.
Faktisch aber, sagt Lider Gongora bitter, hat sich nichts verändert. Selbst die Grenzen von Schutzzonen schrecken Shrimpsfarmer nicht. Im Norden von Ecuador errichteten Züchter ihre Becken sogar in den Grenzen eines Nationalparks, ohne dass Polizei oder Justiz eingegriffen hätten.
Hinter dieser Duldung vermutet Lider Gongora System. «Politik und Shrimpsindustrie stecken unter einer Decke»,
erklärt er. Der ehemalige Botschafter Ecuadors in den USA, Alberto Maspons, ist Präsident von El Rosario und steht damit dem zweitgrößten Unternehmen im Shrimpsgeschäft vor. Auch die langjährige Direktorin der Fischereiabteilung Nancy Cely Icaza - zuständig für die Vergabe von Konzessionen und die strafrechtliche Verfolgung etwaiger Straftaten durch Züchter - sitzt heute im Leitungsgremium der «Kammer der Aquakultur». «Bei uns sollen sich die Shrimpsfarmer selbst verfolgen, da wundert es niemand, dass kein Mensch im Gefängnis landet», klagt der Umweltschützer.
Bis 1992 wurden nach Angaben der Regierung allein 14.000 Hektar illegal errichtet. Andere Farmer weisen Papiere und Urkunden vor, doch an ihrer Legitimität zweifelt Lider Gongora: «Es gibt viele illegalen Wege der Legalisierung.» Mit einem Handstrich werden aus Mangrovenwälder «Buchten und Strände», «Salzflächen» oder «höher gelegenes Land». Diese Flächen fallen nicht unter das Gesetz von 1985 und dürfen genutzt werden.
Oder den Mangroven wird klammheimlich das Wasser abgegraben. Oder die Grenzen von Nationalparks werden solange verschoben, bis sie unnötig geworden sind. Alles ist eine Frage des Preises. Oder der von Beziehungen oder Einfluss. In Ecuador herrscht ein sorgfältig austariertes System des Gebens und Nehmens.
«Unsere Gesetze sind erstklassig, aber es hapert an der Umsetzung», sagt die neue Umweltministerin Yolanda Kakabadse zum Vorwurf der Korruption. Sie will die Kontrollen entlang der Küsten verschärfen, den Einfluss der Gemeinden stärken. Wie das geschehen soll, sagt sie nicht, aber sie gibt zu, «dass die Behörde über keinerlei Ressourcen verfügt». Wohl auch deshalb will Yolanda Kakabadse bei der Einführung strengerer Umweltrichtlinien mit der Shrimpsindustrie zusammenarbeiten. Gegen sie, das weiss die Umweltministerin nur zu genau, wird sie kaum etwas erreichen können. Zu stark ist deren Lobby, zu schlagkräftig das Argument der Deviseneinkünfte von 900 Millionen US-Dollar und 250.000 beschäftigten Mitarbeiter, die so manch unangenehme Gesetzesvorlage zum Scheitern bringen können.
Diese Konstellation ist für den Umweltschützer Lider Gongora eine der Gründe, warum er wirklichen Zugeständnissen der Züchter nur mithilfe eines Kaufboykotts eine Chance gibt. Mit dieser Überlegung steht er nicht allein. Organisationen in Indien, Bangladesh, Thailand, Mexiko oder Tansania fordern westliche Konsumenten auf, Garnelen aus ihren Ländern nicht zu kaufen. «Ein Boykott», das weiss Lider Gongora, «ist keine Lösung, aber das einzige Mittel, mit dem wir Druck ausüben können».



«Ich bin es leid», sagt Nancy Cely Icaza und knallt ihre flache Hand auf den Tisch. Laufend muss die Direktorin der ecuadorianischen Kammer der Aquakultur Fragen über die illegale Abholzung von Mangroven, über verwendete Chemikalien, vertriebene Küstenbewohner und Epidemien beantworten. «Umweltschützer werfen uns sogar vor, wir würden unsere Mitarbeiterinnen von Kopf bis Fuss mit Chemikalien einsprühen», sagt sie mit einem Hauch von Bitterkeit und sieht sich einer Kampagne ausgesetzt.
Dass viele Farmen in der nördlichen Provinz illegal errichtet wurden, bestreitet sie keineswegs. «Von der dortigen Situation darf man aber nicht auf die gesamte Zunft schliessen», sagt sie. Rund um Quayaquil, dem Zentrum der Garnelenzucht, werden kaum Mangroven gefällt und die Gesetze eingehalten sagt sie in einem Ton, der keine Zweifel erlaubt.
Nancy Cely Icaza kennt die Argumente ihrer Gegner und so wartet sie deren Vorwürfe erst gar nicht ab, sondern geht in die Offensive. Natürlich wurden Mangroven um Guayaquil eingeschlagen. Das aber ist lange her; vor 1994 jedenfalls, dem Jahr als die Regierung den Einschlag verboten hat. «Ausserdem dachte doch früher niemand an die ökologischen Auswirkungen.»
Heute schon. «Wir haben aus unseren Fehlern Lehren gezogen», sagt sie, um sich dann einen Seitenhieb gegen die Umweltschützer zu erlauben: «Wir reden nicht, sondern handeln».
Statt wie früher Wildlarven verwenden viele Züchter heute in Brut¬anstalten gezüchtete Tiere. Damit lässt der Druck auf den natürlichen Bestand nach und mit jeder Larve die nicht mehr gefangen werden muss, reduzieren sich auch die dabei entstehenden extrem hohen und schädlichen Beifang¬raten.
Das Flüssen entnommene Wasser wird in den Produktionsanlagen aufbereitet. Es fliesst sauberer zurück als vorher. «Ausserdem ist die Qualität des Quayas heute nicht schlechter als vor 30 Jahren», behauptet Nancy Cely Icazas - für sie ein weiteres Zeichen für die unnötige Aufgeregtheit von Kritikern.
Inzwischen finanzieren Shrimpsfarmer sogar ein Projekt von «Fundacion Natura» zum Schutz der Mangroven. Die grösste Umweltorganisation des Landes überwacht mit regelmässigen Flügen die Mangrovenwälder in der Provinz Guayas. Farmer, die Mangroven einschlagen werden angezeigt und im Bulletin der Kammer geoutet. Stolz zeigt sie auf die kleine Notiz in der neuesten Ausgabe, die einen der grossen Züchter blossstellt.
Für einen Boykott ecuadorianischer Garnelen jedenfalls sieht sie deshalb auch keinen Grund. «Das würde unser Land und die Menschen in eine verheerende Krise stürzen», warnt sie.
«Wir benötigen eine starke Lobby, wenn wir gehört werden wollen», sagt Nancy Cely Icaza. Die Kammer ist dafür gewappnet. Seit fünf Jahren vereinigt sie 700 Farmer, Exporteure und Produzenten unter ihrem Dach, darunter alle Exporteure und immerhin 70 Prozent der Produzenten. Mit vereinten Kräften hofft die ecuadorianische Shrimpslobby die Boykottforderungen in ihrem wichtigsten Abnehmerland, den USA, abzuwenden. Inzwischen haben die Shrimpsproduzenten die «US Global Aquacultural Alliance» gegründet. Mit Anwälten und Wirtschaftsexperten soll das Büro «die unfairen Attacken der Grünen vereiteln».



Abends, wenn der Himmel und das Wasser des Bolívars den rötlich-warmen Glanz der untergehenden Sonne annehmen, erscheint das Ende der Welt in einem warmen bezaubernden Licht.
Aber auch hier zwischen Pazifik und vereinzelten Mangrovenresten, ruht die Zeit nicht. Heute ist das Dorf Bolivar Beispiel für eine zweifelhafte Moderne, die mit ihren Investitionen die existierende Subistenzwirtschaft verdrängt und mit ihr gleich einige der alteingesessenen Muschelsammler und Fischer. In Muisne blickt Pater Joseph mit Sorge auf den Riss, der sich zwischen Farmern und Gegnern auftut. «Früher wurde der Reichtum der Natur gleichmässig unter den Einwohnern verteilt, seit die Shrimpsindustrie an der Küste Fuss fasst, konzentriert sich der Gewinn in den Händen weniger», erklärt er.
Aber da sind auch andere Wahrheiten. Die der Gewinner zum Beispiel. In Muisne sind es Bootsfahrer, Hotels, Restaurants, Lebensmittelgeschäfte, die zwei Tankstellen und rund 300 Arbeiterinnen, die den geernteten Shrimps in der Produktionsanlage weiterverarbeiten. Einige wie Gladys Castillos Mann verdienen überdurchschnittlich. Andere müssen für zehn Mark 15 Stunden arbeiten.
Ob sich die ecuadorianische Shrimpsindustrie positiv oder eher negativ auf die ecuadorianische Volkswirtschaft auswirkt, darüber kann heute noch niemand eine eindeutige Bilanz ziehen. Dass der Boom sich ungebrochen fortsetzt, ist offensichtlich. Der Dynamik aus Kapital und Gewinnaussichten haben die Gegner wenig entgegenzusetzen. Zumal die Regierung nicht willens scheint, die «Goldsucher» in ein juristisches Korsett zu zwingen.
Selbst wenn die Geschichte der ecuadorianischen Shrimpsindustrie neben allen Erfolgen auch immer mit Umweltzerstörung und Vertreibung verbunden ist, wird es ein Zurück zum Status Quo vor 1968 nicht geben. 200.000 Hektar wieder aufzuforsten erscheint weder politisch durchsetzbar noch sozial sinnvoll.
Sinn hingegen - da sind sich die Umweltorganisationen einig - würde eine Krabbenzucht machen, die sich auf ausgewiesene Gebiete beschränkt, die den Küstenbewohner Raum zum überleben lässt und die als Ziel nicht kurzfristige Gewinne formuliert, sondern ökologische Standards einzuhalten bereit ist.
Für eine derartige Selbstbeschränkung sieht Lider Gongora allerdings keine Anzeichen. So gibt es für Umweltschützer nur zwei Optionen: Dialog oder Boykott. Mit welcher Strategie die Ökologen eher ans Ziel kommen, darüber befinden auch die Shrimpskonsumenten in den Verbraucherländern.
Machen diese ihre Kaufentscheidung vom Preis abhängig, unterstützen sie damit automatisch jene, die sich zugunsten einer kostengünstigen Produktion über soziale und ökologische Bedenken hinwegsetzen.
Ein Verzicht auf die Delikatessen hingegen verringert den Investitionsdruck auf die Küsten, zerstört aber auch Arbeitsplätze.
Oder es werden nur Shrimps aus einer ökologisch wenig bedenklichen Produktion konsumiert. Noch gibt es dafür kein Zertifikat, aber in Ecuador diskutieren Shrimpsproduzenten und westliche Einkäufer bereits über die Voraussetzungen eines Labels. Aber auch dann bleiben Fragen: Kann auf illegal besetztem Gelände überhaupt ökologisch produziert werden? Wer kontrolliert, ob sich die Farmer an die Richtlinien halten? Wer stellt die lukrativen Zertifikate aus, und wer kontrolliert die Mitarbeiter dieser korruptionsanfälligen Behörde?
Fragen wie diese beschäftigen inzwischen auch die Einkäufer der Lebensmittelketten. Im Segment der kleinen Shrimps will Coop, «solange es unsere Kunden mitmachen», den etwas teuren und ökologisch unbedenklicheren Shrimps aus Grönland den Vorzug vor der südlichen Aquakonkurrenz geben, sagt Pressesprecher Karl Weisskopf. Migros hingegen möchte angesichts der kontroversen Diskussion um die ZuchtKrabben lieber gar keine Stellung abgeben. Das aber bedeutet wohl, dass hinter verschlossenen Türen eifrig darüber diskutiert wird, ob der Import von Shrimps aus Ländern wie Ecuador noch opportun erscheint.