Investitionen gegen den Verkehrsinfarkt

Wer Indien ein wenig verstehen will, der sollte sich nur einmal an eine befahrene Straßenkreuzung stellen. Es ist großes Kino.

Von allen Seiten schieben sich Menschen und Fahrzeuge Richtung Kreuzung. Autofahrer drängen Rikschas an den Rand. Neben Bussen schieben Männer voll bepackte Sackkarren. In jede Lücke stoßen Mopedfahrer hinein. Fußgänger bahnen sich ihren Weg durch den Abgasdunst. Ein ums andere Mal verknoten sich Fahrzeuge und Menschen zu einem scheinbar unentwirrbaren Knäuel. Das Durcheinander löst sich jedoch stets wieder auf. Willkommen in Indien. Wer wird den gleich den Kopf verlieren?

Kann mit solch einer chaotischen Infrastruktur eine Volkswirtschaft funktionieren? Der Alltag beweist: Ja! Soll die Wirtschaft aber weiter wachsen, muss die Verkehrsinfrastruktur schnell ausgebaut werden. Da sind sich Politiker wie Unternehmer einig. Die boomende Wirtschaft braucht schnellere Verkehrswege. Auch die private Reiselust der Inder nimmt zu. Die Zahl der Autos ebenfalls. Die Mobilität im Land verändert sich rasant.

In ihrem Fünf-Jahres-Plan für die Jahre 2007 bis 2011 hat die indische Regierung deshalb enorme Infrastruktur-Investitionen gerade in den Bau von Straßen und in den Schienenverkehr angekündigt. Insgesamt will das Land in den nächsten zehn Jahren rund 1 938 Milliarden Euro in den Verkehrssektor investieren. Das ist eine gewaltige Summe und doch nur ein Viertel dessen, was Nachbar China in die Infrastruktur steckt.

Ausbaufähige Wasserwege

Indien verfügt über ein über 14 000 Kilometer langes Netz aus schiffbaren Flüssen und Kanälen. Allerdings transportieren Binnenschiffe lediglich 0,15 Prozent des gesamten inländischen Frachtverkehrs. Zum Vergleich: In Bangladesch sind es 32 Prozent, in Deutschland knapp sechs Prozent. Es fehlt an modernen Schiffen, an modernen Navigationsgeräten, an Kränen und Lagerhallen.

Während die Binnenschifffahrt also ein Schattendasein führt, boomt der Warenverkehr über die Seehäfen. Wurden 2004 noch 519 Millionen Tonnen verschifft, werden es 2010 schon 877 Millionen Tonnen. Das Problem: 60 Prozent des wachsenden Containerverkehrs wird via Colombo in Sri Lanka verschickt. Das ist teuer und dauert länger. Die Regierung will deshalb die zwölf wichtigsten Häfen modernisieren. Das National Maritime Development Programm sieht Investitionen von acht Milliarden Euro vor.

Auch die 118 nationalen und elf internationalen staatlichen Flughäfen sollen ausgebaut, über sechs Milliarden dafür investiert werden. Schließlich steigen die Fluggastzahlen und das Frachtaufkommen jährlich um bis zu 20 Prozent. Das benötigte Kapital sollen auch private Investoren zuschießen. Dafür ist die Regierung bereit, Flughäfen wie die in Delhi und Mumbai (Bombay) zu privatisieren.

Das Schienennetz der indischen Staatsbahn ist länger als 63 000 Kilometer. Jeden Tag reisen darauf 18 Millionen Passagiere, transportieren Güterzüge zwei Millionen Tonnen. Die indische Staatsbahn ist mit 1,4 Millionen Beschäftigten der größte Arbeitgeber der Welt. Und doch ist die Bahn kaum in der Lage, das wachsende Passagier- und Frachtaufkommen zu bewältigen. Die Regierung will deshalb das Schienennetz ausbauen, Strecken für Hochgeschwindigkeitszüge einrichten und Frachtkorridore für Cargo-Züge installieren. Die nötigen Investitionen belaufen sich auf etwa 40 Milliarden Euro im Rahmen des elften Fünf-Jahres-Plans, mehr als die Hälfte sollen private Investoren bereitstellen.

Risse im Straßennetz

Indiens Straßennetz hält ebenfalls ein paar Superlative bereit. Es umfasst 3,3 Millionen Kilometer. Über diese asphaltierten Straßen und Schotterpisten reisen 85 Prozent aller Passagiere, werden 60 Prozent des Frachtverkehrs abgewickelt. Die Qualität der meisten Straßen ist jedoch miserabel. Vier von zehn indischen Dörfern sind immer noch nicht mit einer asphaltierten Straße an dieses Netz angeschlossen. Die Bewohner können ihre Güter deshalb schlechter verkaufen. Die Armut in diesen Dörfern ist sehr viel größer als in Dörfern mit Verkehrsanbindung.

Autobahnen und Bundesstraßen sind häufig von minderer Qualität. Mit seinem National Highway Development Program baut Indien seine Autobahnen aus; zum Beispiel die als Goldenes Viereck bekannte Tangentiale zwischen Delhi, Mumbai, Chennai (Madras) und Kolkata. Im Nord-Süd- und Ost-West-Korridor soll der Verkehr künftig ebenfalls besser rollen. Ob die geplanten Investitionen ausreichen, um das jährlich um 15 beziehungsweise 20 Prozent steigende Passagier- und Frachtaufkommen zu bewältigen, ist allerdings zweifelhaft. Schließlich wächst auch die Zahl von Bussen, Lastwagen und Autos.

Die steigenden Zahlen an Autos und Lastwagen und der schleppende Ausbau der Infrastruktur sorgen dafür, dass Indiens Verkehrsadern mehr und mehr verstopfen. Das gilt vor allem für die schnell wachsenden Städte. Das Durchschnittstempo dort sinkt, zuweilen auf sieben Stundenkilometer. Da ist so mancher Fußgänger schneller.

Wege für Fußgänger oder Fahrräder, also fürs Gros der städtischen und ländlichen Mobilität, gibt es in Indien jedoch kaum. Städte- und Verkehrsplaner müssen auch ihnen, den schwächsten Verkehrsteilnehmern, mehr Bewegungsspielraum einräumen. Das kann nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln geschehen. Positive Ansätze dazu gibt es in vielen Städten. U- und Hochbahnen sind allerdings teuer. Sie zu bauen dauert lange. Schnellbussysteme sind sehr viel billiger und schneller zu verwirklichen, wie die Erfahrungen in Ahmedabad, Pune und auch in Delhi zeigen.

Allen Anstrengungen zum Trotz: Indien wird noch sehr viel mehr in die Mobilität investieren müssen. Mehr Straßen, Schienen, Häfen und Busspuren allein reichen nicht aus. Visionen und Utopien sind gefragt. Die Mobilität der Zukunft entscheidet über die Lebensqualität der Menschen – gerade in den Städten.