El Che falta hoy en Bolivia

Auf Che Guevaras Spuren in Bolivien

Hier also ist er gejagt und getötet worden, wie ein wildes Tier, nach zehn Monaten Guerilla-Krieg mit dem bolivianischen Militär und der nordamerikanischen CIA. Als das bolivianische Militär Ernesto Che Guevara und seine letzten Companeros am 7. Oktober 1967 in der Churo-Schlucht am Rio Grande umzingelte, war er am Ende seiner Kräfte und an den Beinen verletzt. Die Soldaten schleppen ihn in die Schule dieses armen bolivianischen Bauerndorfes. Nach einigen Schnäpsen richtet Unteroffizier Mario Terán den auf einer Bank hockenden Guerillaführer mit mehreren Maschinengewehrsalven in der Schule La Higueras hin. Am Sonntag, den 8. Oktober 1967, um 13.10 Uhr ist der Berufsrevolutionär tot. Und die Legende Che Guevara beginnt zu leben. 
„Hello, I’m Favio, welcome in La Higuera, you are from Germany?“ Favio Giorgio begrüßt jeden Besucher mit offenem Blick und Handschlag. Der 34-Jährige mit den großen braunen Augen und dem Drei-Tage-Bart trägt auf dem Kopf eine olivgrüne Schirmmütze, in der Mitte der fünfzackige rote Stern, den alle Linksrevolutionäre der Welt gerne zeigen, weil der gegenüber am Dorfplatz in einen überdimensionalen Stein gehauene Che Guevara ihn eben auch trug. Hinter ihm ein einfaches Holzkreuz, das ihn leicht überragt.
Favio Giorgio hat noch weitere Gemeinsamkeiten mit dem Mann, der, wenn er noch lebte, sein Vater hätte sein können: Wie Che stammt er aus Rosario, der Millionenstadt in den argentinischen Pampas, wie Che hat er Asthma und wie Che ist er einmal mit dem Fahrrad quer durch Südamerika gefahren, auf der Suche nach der Seele des Subkontinents – allerdings ohne Hilfsmotor wie der damalige Medizinstudent und spätere Weltrevolutionär Ernesto Guevara. Die 13-monatige Fahrradtour über die höchsten Gipfel der Anden, quer durch das Amazonasgebiet und Mittelamerika, kürte Favio im Januar 2001 mit einer Rundreise durch Ches sozialistisches Cuba, wo er eine Woche bei Alberto Granado gelebt hat, der mit Che dessen erste Südamerikatour Anfang der 50-er unternahm. Sie sind Brüder auf dem Sattel und im Geiste, Revolutionäre, denen die bis heute anhaltende Armut und Ausbeutung Lateinamerikas Herzensangelegenheit sind. Zu dieser Zeit weiß Favio längst, wo er die nächste Zeit seines Lebens verbringen will: Hier in La Higuera, wo er im Frühjahr 2000 auf seiner Fahrradtour feststellen musste, dass sich an den Lebensbedingungen der bolivianischen Bauern, die Che mit seinen 50 Guerilleros für die Revolution begeistern wollte, so rein gar nichts in den vergangenen 30 Jahren geändert hat. Wie auch – hier, wo nur zweimal die Woche das Camion aus Vallegrande ein paar Lebensmittel bringt und ansonsten die wilde Schönheit des großen Tals der einzige Lichtblick ist.
„Also habe ich mich am 21. Juli 2001 der Gemeinde vorgestellt mit dem Angebot, ihnen ein Jahr lang unentgeltlich zu helfen“, sagt Favio Giorgio so, als wenn es im Leben eines 34-Jährigen keine anderen Ziele gäbe als in dieser vergessenen Region Boliviens der Samariter zu geben. Keinen Dollar und noch nicht mal bolivianische Pesos hatte der Argentinier mitgebracht. Trotzdem blüht La Higuera seitdem auf. „Favio ist wie ein Heiliger für uns“, sagt Margarita, 38 Jahre alt, die mit ihrer Großmutter, den fünf Kindern und ihrem Mann in einer Hütte aus Lehm und Stroh kurz hinter dem großen Che-Denkmal lebt. „Er unterrichtet uns und unsere Kinder, er hat die Schule renoviert und das Museum gebaut und wir haben jetzt die Wassertanks.“ 20 Sammelbehälter für Regenwasser hat Favio Giorgio für La Higuera und die umliegenden Dörfer mit Finanzmitteln einer Nichtregierungsorganisation gebaut. Jetzt können die Bauern Bewässerungssysteme anlegen und Früchte anbauen, die ohne regelmäßige Bewässerung vertrocknen würden. Damit werden sie in Zukunft weit mehr Bolivianos verdienen können als mit Kartoffeln, Bohnen und Getreide.
Vor allem kommen jetzt mehr Touristen, die in La Higuera ihren persönlichen Höhepunkt der bolivianischen Ruta del Che suchen und finden. Seit Favio Giorgio hier gemeinsam mit den Bewohnern werkelt, putzt sich die 104 Seelen-Gemeinde jeden Tag ein bisschen mehr heraus: In der schon fast verfallenen Schule sind zwei Klassenräume hell und freundlich renoviert, nebenan ist die Revolutions-Bibliothek mit rund tausend Buchtiteln rund um Che und den südamerikanischen  Befreiungskampf eingezogen, die der Argentinier im Laufe weniger Monate zusammengestellt hat. Und für gerade mal 300 Dollar, in Bolivien als ärmsten südamerikanischen Land ein kleines Vermögen, ist die Pension del Che entstanden: eine kleine Hospedaje, wo Gäste für wenige Bolivianos übernachten können.
Die freuen sich natürlich besonders, wenn einer der Alten des Dorfes ein paar Fotos von damals herauszieht. Dona Irma Rosado, die an der Plazuela del Che in ihrem kleinen Häuschen schnell Reis, Bohnen und Spiegeleier für die Besucher aus Europa auf den Tisch bringt, zeigt ein Schwarzweißfoto von Che kurz nach seiner Hinrichtung: Mit freiem Oberkörper, wilder Revolutionsmähne und offenen Augen sieht er aus wie der Santo El Che, der Heilige Che, als der er hier überall verehrt wird. „Am Abend bevor die Soldaten sie gefangen haben, haben die Guerilleros oben auf dem Berg noch eine Fiesta gefeiert“, erzählt der 61-Jährige Jorge Quiroga. „Aber den Männern ging es nicht gut. Sie waren deprimiert.“ 
Bereits am 31. August 1967 war die zehnköpfige Guerilla-Truppe um den Cubaner Joaquín, die schon seit vielen Wochen von Ches Gruppe getrennt durch die Berge irrte, etwa 30 Kilometer von La Higuera entfernt in Vado del Yeso am Rio Grande in einen Hinterhalt des Militärs geraten. Nur einer überlebte. „Das war das Ende für die Stimmung in Ches Gruppe“, sagt Favio auf dem Rundgang mit den Che-Anhängern aus Europa. Dann schließt er die Tür zu dem ehemaligen Schulgebäude auf, in dem heute die Sanitätsstation La Higueras untergebracht ist: „Und hier haben sie ihn ermordet.“ An den Wänden hängen Bilder des Guerilleros: Che schwarz-weiß in Kampfmontur, Che poppig bunt auf einer Collage. Eine der Engländerinnen blättert Bilder des Besuches von Ches Sohn in La Higuera durch, der Italiener macht sich Notizen, der Franzose hat doch noch Batterien für seinen Fotoapparat auftreiben können: Der Höhepunkt der Ruta del Che in Bolivien gehört aufs Bild.
Che Guevara, die Pop-Ikone der Linken, dessen mystischer Blick seit Jahrzehnten weltweit millionenfach von T-Shirts, Graffitis und Tätowierungen in Richtung Revolution blickt, hatte längst die sieben Leben einer Katze gelebt, als er im November 1966 zu seinem waghalsigen Bolivien-Abenteuer in Cochabamba, der ehemaligen Kornkammer der bolivianischen Minenstädte, eintraf. Mit Fidel Castro und 80 Kampfgefährten war der Heißsporn der cubanischen Revolution am 25. November 1956 auf der Nussschale Granma im mexikanischen Tuxpan gestartet, um Cuba pünktlich zum Neujahrstag 1959 vom Joch seines Diktator Batista zu befreien. Eine Revolutionsgeschichte, die bis heute einmalig ist: 82 Mann gegen die 35.000 Soldaten und Polizisten eines korrupten Diktators, den die US-Amerikaner mit allen Mitteln an der Macht halten wollen. Castro und Guevara gelingt das Unmögliche, die Bauern im Süden der Insel zur Revolution aufzuwiegeln.
Doch der cubanische Sieg war dem gebürtigen Argentinier nicht genug: Nach dem misslungenen Versuch, die karibische Revolution in den afrikanischen Kongo zu exportieren, scheitert er mit einer 50-köpfigen internationalen Truppe aus Cubanern und Bolivianern in Bolivien beim dritten Befreiungsversuch.
Was damals Grund genug für eine Revolution war, die Armut und Unterdrückung, ist es heute immer noch: Bolivien, mit nahezu 70 Prozent das Land mit dem größten Anteil indianischer Bevölkerung in Südamerika, ist mit knapp tausend Dollar Durchschnittseinkommen auch das ärmste Land des Subkontinents, mit einer Zweiklassen-Gesellschaft: die gente bien, die feinen Leute mit spanischer Abstammung auf der einen Seite, die Campesinos und Armen auf der anderen. Regiert von Politikern, die „todos corruptos“, alle korrupt sind, wie es nicht nur die Cholitas, die Marktfrauen mit ihren breiten Hüten und den bunten indianischen Tüchern, auf den Straßen der Hauptstadt La Paz sagen.
Bolivien gilt als eines der sichersten Reiseländer Südamerikas. Dreimal so groß wie die Bundesrepublik, mit nur einem Zehntel der deutschen Bevölkerung ist das Binnenland im Tropengürtel Südamerikas bisher noch weitgehend touristisches Neuland. Insbesondere das Amazonasbecken, das 60 Prozent Boliviens bedeckt, ist nahezu unentdeckt. Vom immerfeuchten tropischen Regenwald im Norden des Landes über den tropischen Nebelwald der abfallenden Anden im Osten, Savannen- und Pampavegetation bietet das bolivianische Amazonasbecken vielfältige Möglichkeiten, unberührte Natur zu erleben.
Reisegruppen finden man selbst in der Hauptstadt La Paz, die nur wenige Stunden per Bus vom Titicacasee auf knapp 4000 Metern Höhe entfernt ist, nur selten. Die Wiege der andinen Hochkultur der südamerikanischen Indianer mit der jahrhundertealten Pilgerstätte Copacabana, wo die letzten Sonnenstrahlen des Tages den See in pures Gold zu verwandeln scheinen, galt nicht nur den Inkas als Geburtsstätte der Sonne.
Doch welche Kultur wann welches Heiligtum errichtet hat, ist bei vielen Kulturdenkstätten Boliviens noch immer unerforscht. Zum Beispiel die inzwischen von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannte Kultstätte El Fuerte, das Fort, in Samaipata. Auch wenn deutsche Archäologen jahrelang zu erforschen suchten, welche Geheimnisse der 200 Meter lange und 60 Meter breite Felsen birgt, der wie eine Landebahn in den Himmel ragt, kann auch heute keiner eindeutig sagen, was hier in den letzten zweitausend Jahren passiert ist: War es tatsächlich die von Erich von Däniken ersponnene Abschussbasis für Ufos oder ist es eine zunächst von Amazonasindianern und – das ist sicher - später von den Inkas genutzte Heiligstätte?
Hier, in der Stadt des ewigen Frühlings auf 1600 Metern, hält Guillermo Guiterrez Espinosa die Erinnerung an Che wach. In einem Abstellraum hat der 63-jährige Kunsthandwerker, der kleine Lederanhänger mit Ches-Konterfei bastelt,  zwischen leeren Weinflaschen und vertrockneten Spülbecken einen kleinen Tempel mit Che-Bild und Jesu-Kreuz eingerichtet. „Samaipata war die einzige Stadt, wo die Guerilla einen Erfolg hatte“, erzählt Guillermo stolz von dem gewitzten Überfall der  Guerilleros am 6. Juli 1967. Bloß: Die Medikamente gegen Ches Asthma hatten die Guerilleros vergessen und Che tobte.
Bolivien ist ein Land voller Geheimnisse, wo in den Bergdörfern des Altiplano heute noch indianische Traditionen wie vor hunderten von Jahren gelebt werden. In El Alto, der rein indianischen Schwester der Hauptstadt La Paz, wuchert auf viertausend Metern die am schnellsten wachsende Großstadt Südamerikas vor sich hin. Hierhin flüchten die Campesinos, die aufgrund der stetig fallenden Weltmarktpreise ihrer landwirtschaftlichen Produkte ihre Zukunft in der neuen Zeit suchen. Und die Mineros, die in den jahrhundertealten Zechen noch heute Silber, Zinn oder Gold mit einfachsten Werkzeugen aus dem Stein prügeln. Die Säcke mit den erzhaltigen Steinen an die Füße gebunden, kriechen sie aus den bis zu 5000 Meter hoch gelegenen Bergwerken aus dem Innersten der gebrechlichen Stollen wieder ans Tageslicht. Diesen beinharten Job halten die Mineros nur durch, weil sie den ganzen Tag lang die Blätter der Coca-Pflanze kauen, als Wachmacher und Appetithemmer.
Potosí auf 4000 Metern in der Zentralkordillere der Anden ist heute das Armenhaus Boliviens. Im 17. Jahrhundert war die Silberstadt mit 160.000 Einwohnern gemeinsam mit Sevilla, London und Venedig eine der Weltmetropolen. Aus dem Cerro Rico, dem reichen Berg mit der ergiebigsten Silbermine der Welt, schleppten die acht Millionen Indianer, die von den spanischen Kolonialherren auf viertausend Metern Höhe im Berg verheizt wurden, so viel Silber, wie es für eine Brücke von hier bis nach Spanien gereicht hätte. Der wie ein Schweizer Käse durchlöcherte Berg spuckt heute immer noch Silber aus. Doch wer unter der Führung eines Mineros in einen seiner 500 Mineneingänge und damit in den Alltag der letzten Mineros von Potosí eintaucht, weiß spätestens am Abend, dass er im Mahnmal des größten Verbrechens der spanischen Krone auf südamerikanischem Boden war.
Heute kämpfen die Mineros im Chapare, dem Regenwald zwischen Cochabamba und Santa Cruz, der tropischen Metropole Boliviens nahe der brasilianischen Grenze, ihren Kampf weiter. Seit sich die neuen Besatzer, die US-Amerikaner, die jedes zweite Land Südamerikas mit ihrer Finanzmacht kontrollieren, in ihrer drogenpolitischen Strategie auf die Vernichtung der Coca-Pflanze direkt in den Herkunftsländern verlegt haben, ziehen von den USA finanzierte bolivianische Soldaten durch den Urwald und reißen die Sträucher per Hand aus. Etwa 50.000 Familien ehemaliger Mineros haben sich in den vergangenen Jahrzehnten im Chapare niedergelassen, um mit dem Anbau der Coca, der uralten Kulturpflanze der Anden, überleben zu können. Die Situation ist paradox: Während die Coca-Bauern in den Yungas, dem Regenwald in der Nähe von La Paz, Coca für den traditionellen Verzehr anbauen dürfen, ist es im Chapare weitgehend verboten.  
Kein Wunder, dass Che, der in Bolivien erfolglose Revolutionär, hier heute immer beliebter wird. Wenn in Cochabamba auf der Plaza Mayor, dem zentralen Platz der Stadt, Campesinos, Arbeiter und Cocaleros die politische Lage diskutieren, ist immer ein Che-Konterfei dabei.
Favio, mit dem sich auf der Rückfahrt im Camion von La Higuera nach Vallegrande vorzüglich die zu Recht gescholtene Menschenrechtssituation in Castros Sozialismus der heutigen Tage diskutieren lässt, zeigt gern noch weitere Stätten der Ruta del Che: zum Beispiel den Flugplatz in der Kreisstadt Vallegrande.  Der ist halb umgepflügt, weil der Militär Mario Vargas, der 1995 im Suff ausplauderte, dass Che nicht verbrannt, sondern hier verbuddelt worden sei, nicht mehr genau wusste, wo er denn nun liegt. Erst nach zwei Jahren und dem Einsatz von Radargeräten fand man die sterblichen Reste des Weltrevolutionärs. Ein paar hundert Meter weiter, auf dem Grundstück des Rotarier-Clubs, liegen die Gräber der anderen Guerilleros. Auch die letzte Ruhestätte der Deutschen Tamara „Tania“ Bunke aus Chemnitz, „der letzten Geliebten Ches“, wie Favio sagt. Oder das Waschhaus in Vallegrande, das heute mit Graffitis à la „Yankees go home“ verziert ist, in dem Che aufgebahrt wurde und an dessen Leichnam mit dem heiligen Gesichtsausdruck halb Vallegrande vorbei defilierte. „El Che falta hoy en Bolivia“, sagt eines der Mütterchen, die am Marktplatz Papiertütchen mit Nüssen für einen Boliviano das Stück verkaufen: „Che fehlt heute in Bolivien.“