Der Kampf der Königinnen

In der Schweiz werden Kuhkämpfe immer populärer. Wenn die Eringer Kühe aufeinander losgehen, überträgt selbst das Schweizer Fernsehen. Das fördert den Tourismus, den Not leidenden Landwirten hilft das kaum.

Kurz ist es still. Dann scharren die letzten beiden „Gladiatorinnen“ mit den Hufen, schleudern Erde in die Luft, während die schweren Glocken um ihren Hals das Finale einläuten. Unvermittelt preschen die beiden über 700 Kilo schweren Kühe aufeinander los, stoßen mit der Stirn zusammen, schieben einander über das Grün. Ein schnaubendes Hin und Her, eine Explosion aus Masse und Muskeln – archaisch und wild. Bis die eine Reißaus nimmt. Die Entscheidung. Zurück bleibt Tikki. Sie hebt ihren Kopf, Schaum steht ihr vor dem Mund. Wenn sie könnte, dürfte sie sich ab sofort Walliser Königin der Königinnen nennen.
Beim Kuhkampf geht es hart zur Sache. Doch mit dem spanischen Stierkampf hat er nichts gemein. Kein Tier stirbt oder wird ernsthaft verletzt, gequält oder aufgehetzt. Alles ist natürlich. Eine Rangelei, wie sie Eringer Kühen in den Genen tragen, jener „rauflustigen Rasse“ aus dem Wallis, die – wo sie aufeinander treffen – erst einmal auskämpfen müssen, wer auf der Wiese das Sagen hat.
Die Bauern nutzen diese Tatsache seit Urzeiten, um im Frühjahr kurz vor dem Alpauftrieb die Anführerinnen ihrer Alpherden ausfindig zu machen. Denn, so Bauer und Jurymitglied Stephane Pillet, „eine gute Anführerin auf der Alp erleichtert unsere Arbeit ungemein.“
Daraus hat sich über die Jahre ein Sport mit genauen Regeln entwickelt. Die Tradition der Kuhkämpfe reicht bis in die Anfänge des letzten Jahrhunderts zurück, als es noch keine E-Mail und keine Mobiltelefone, keine Fernsehkanäle und keine geteerten Passstraßen gab. Als sich das Leben der Menschen in den engen Grenzen des eigenen Dorfes oder des eigenen Hofes abspielte.
Die Kuhkämpfe waren deshalb nie nur Sport, sondern immer auch Anlass für gemeinsame Feste. Dabei blieben die Bauern lange unter sich. Erst seit einigen Jahren entwickeln sich die „Kämpfe der Königinnen“ (Combats du Reines) zu einem Publikumsmagneten, die das Fernsehen überträgt und die – wie in Martigny – immer mehr Zuschauer anziehen.
Dieser Zuspruch löst bei den Bauern Freude und Sorge gleichermaßen aus. Freude, weil daraus „auch wieder mehr Respekt für die Arbeit der Landwirte erwachsen kann“, erklärt der Besitzer von Tikki, Pierre-Henri Héretier. Doch er sorgt sich auch „dass die Kuhkämpfe zu einem Tourismusevent verkommen“.
Am Sonntagmorgen gibt es dafür keine Anzeichen. In der Früh sind die Bauern unter sich. Traktoren, Last- und Geländewagen verstopfen die Zufahrten um das Amphitheater, das die Römer für ihre blutigen Spiele einst in Martigny errichteten.
Pierre-Henri und Sohn Raphy führen Tikki zur Anmeldung. Sie bringt fast 700 Kilo auf die Waage, muss also in der Kategorie der schwersten Tiere antreten. Daneben existieren zwei leichtere Klassen, eine weitere für Jungtiere und eine für die erstmals trächtigen Kühe – zusammen fünf Kategorien.
Ein Tierarzt begutachtet Tikkis Konstitution, kontrolliert die Spitze der Hörner und untersucht per Ultraschall, ob die achtjährige Kuh trächtig ist. „Unbefruchtete Kühe entwickeln sehr viel mehr Aggressivität, weshalb sie vom Wettbewerb ausgeschlossen sind“, erklärt Veterinär Claude Pachoud die Regeln. Außerdem müssen vier der 95 gemeldeten Tiere zur Dopingkontrolle. „Eine positive Probe gab es noch nie“, sagt Willy Giroud, Präsident der Organisation „Kampf der Königinnen“. Sein Credo: Wehret den Anfängen. „Das schützt die Tiere am besten.“
Um zehn Uhr führt Pierre-Henri Héretier Tikki erstmals in die Arena - zusammen mit elf Konkurrentinnen. Der 60-Jährige entfernt den Strick, streicht ihr noch einmal über die glatte Stirn und zieht sich hinter die Umrandung zurück. Erst passiert nichts, dann legen die Kühe los. Ein Stakkato aus Glocken, ein Gewirr aus Hörnern und Leibern. Dazwischen die „Rabatteure“ (Treiber), die für faire Kämpfe sorgen. Wo zwei streiten, darf eine Dritte sich nicht einmischen. Wenn Kühe partout nicht wollen, führen sie zwei an den Hörnern zueinander, bis sie kämpfen oder es lassen.
Über Siege und Niederlagen wacht die Jury. Kühe, die dreimal verlieren oder weglaufen, scheiden aus. Die sechs besten kommen in die nächste Runde. Am Ende des Tages kämpfen in jeder Kategorie die besten um den Titel. Im letzten Kampf fechten die Königinnen um die Krone als „Königin der Königinnen“.
Trotz all dem Rangeln und Streiten innerhalb der Arena, auf den Rängen geht es gemütlich zu. Immer bleibt Zeit für einen Schwatz oder für einen Abstecher ins Bierzelt, in dem Bauern und Zuschauer an langen Bänken zusammensitzen, essen und trinken. Oder man wechselt auf die andere Seite der kleinen Straße, wo die Gladiatorinnen an langen Seilen angebunden in Dreierreihen stehen. Von der Arena schallt das Gebimmel der kämpfenden Kühe herüber. Zwischen ihren Tieren haben es sich die Besitzer gemütlich gemacht, haben Stühle und Tische aufgestellt. Darauf stehen Schüsseln mit selbst gemachter Wurst, Käseleiber und Brot, Kuchen, Kaffee und Gläsern. Freunden, die vorbeikommen, kredenzt Pierre-Henri Héretier einen Tropfen aus dem eigenen Weinberg. Mit ihnen diskutiert er über die Agrarpolitik, über das Wetter und über die Zucht.
Ein abendfüllendes Thema, weil jeder der rund 1.000 Züchter in der Schweiz seine eigene Philosophie verfolgt. „Im Prinzip geht es darum eine dominante Kuh mit einem guten Stier zu kreuzen“, erläutert der 60-Jährige. Es gibt Züchter, die schwören auf eine spezielle Ernährung oder darauf, die Tier vor dem Kampf ausreichend zu bewegen. Manche kaufen Kälber von einer aktuellen Königin, andere wie Stephane Pillet sind sich sicher, „dass es auf den richtigen Stier ankommt“.
Eine Erfolgsgarantie ist das alles nicht. In der Laube neben seinem Haus hängen 31 Glocken. Jede eine Auszeichnung für einen Sieg. Ein Platz der Ehre für Stephane Pillet. „Vor ein paar Jahren hatte ich regelmäßig mehrere Königinnen, zurzeit aber habe ich kein Glück.“ Auch weil seine erfolgreichste Kuh plötzlich nicht mehr kämpfen wollte, erzählt er lachend. „Sie hatte einfach keine Lust mehr.“
Für seine Siegerglocke muss Pierre-Henri Héretier erst noch den geeigneten Platz suchen. Zeit dafür hat er nicht. Am Tag nach seinem Erfolg steuert der Weinbauer seinen Geländewagen den Berg hinauf. Auf einer Wiese oberhalb seines Heimatdorfes Haute Saviése steht die Königin der Königinnen und zupft Gras. Weitere sechs Eringer grasen hier. Sie sind Héretier nur noch Hobby, die Viehwirtschaft hat er aufgegeben.
Neugierig stampft Tikki heran, reibt ihren Kopf am Rücken ihres Besitzers. Auf der Wiese laufen die beiden Enkelkinder zwischen den sieben Eringern herum. Angst um die Kleinen muss keiner haben. Gegenüber Menschen sind die wuchtigen Tiere mit den kurzen, muskulösen Beinen und dem gedrungenen schwarzen Schädel so gefährlich wie Lämmer auf einer Wiese.
Schön ist es hier oben. Zwischen zwei Bergen leuchtet das Matterhorn in der Morgensonne. Auf der Sommerwiese zwitschern Vögel, im Wäldchen unterhalb der Wiese murmelt ein Bach. Auf der Autobahn unten im Tal rasen die Autos Richtung Lausanne und Sion. Ihr hektisches Lärmen dringt nicht bis hierher. Nur das Mobiltelefon von Pierre-Henri Héretier zerreißt immer wieder die beschauliche Stille.
Freunde gratulieren ihm zum Sieg, Journalisten fragen nach, wie er Tikki auf den Kampf vorbereitet habe. Und dann sind noch jene, die ihm seine Königin abkaufen wollen. Für einen Haufen Geld. Doch Pierre-Henri Héretier winkt ab. „Eine Königin verkauft man einfach nicht.“
Bauern wie er haben genaue Vorstellungen darüber, was sich gebührt und was nicht. Wer durch die Reihen der Züchter schreitet, der hört viel von Passion, Ehre und Tradition. Be¬griffe, die in der heutigen Zeit fast Argwohn auslösen; und jede Menge Fragen. Ist es wirklich nur ein Hobby? Warum machen die das? Wo ist der ökonomische Nutzen?
Doch Geld taugt nicht als Erklärung. Denn ökonomisch gesehen dürfte es die alte Rasse längst nicht mehr geben. Eringer Kühe produzieren gerade mal 3.500 Liter Milch. Eine Holsteiner Konkurrentin bringt es dagegen gut und gerne auf die doppelte Menge. Bleibt noch ihre Fähigkeit, auch auf den steilsten Hängen Halt zu finden. Dieser Vorteil zählt heute immer weniger, weil die so erwirtschaftete Milch einfach zu teuer ist.
Im Stall von Stephane Pillet stehen trotzdem 30 der schwarzen Tiere. Obwohl oder gerade weil der Vollerwerbslandwirt mit den wilden Haaren mehr Manager als Bauer ist. Pausenlos klingelt sein Handy. Er weist Arbeiter an, beantwortet Kundenanfragen, ordert Heu oder bespricht sich mit dem Veterinär. Er macht in Wein, Weizen, Mais und Obst, hat 30 Stiere und 65 Milchkühe, produziert Milch und Käse. Je nachdem was der Markt gerade will, welche Produktion gerade staatlich unterstützt wird.
Um zu überleben, muss er sich anpassen. Bei seinen Eringern aber denkt er nicht ökonomisch. „Die Tiere sind meine Leidenschaft.“ Eine Zuneigung, die er mit vielen Züchtern teilt. Sie zeigt sich an kleinen Gesten, in der Art wie Bauern ihre Kühe auch nach einer Niederlage tätscheln, wie sie mit stolzer Brust ihre Tiere in die Arena führen oder nach einem Sieg in die Luft springen als hätten sie gerade einen Abfahrtslauf gewonnen. „Wir leben und leiden mit den Kühen, sagt Pierre-Henri Héretier.  „Ein Sieg wird mit Prestige und Ehre aufgewogen, nicht mit Geld.“
Das könnte sich ändern. Längst züchten nicht mehr nur Bauern Kampfkühe. Salamin Dominique beispielsweise betreibt in Grimentz ein Sportgeschäft. „Im Winter arbeite ich wie verrückt, um mich im Sommer der Zucht zu widmen“, sagt der Züchter. Sein Credo: „Kühe müssen Spaß machen, nicht Milch geben.“
Auch Schauspieler und Politiker schmücken sich heute mit einer Eringer Kuh. Kein Wunder also, dass viele Unternehmen die populären Gladiatorinnen als probate Werbeträgerin entdecken.
Wie so häufig hat die Werbeindustrie ein feines Gespür für die Sehnsüchte der Menschen. Eringer Kühe verkörpern regionale Identität und Stärke, sie stehen für Vertrautes und Stabilität, für eine Bilderbuch-Schweiz.
So wie sie die Bauern wieder haben wollen. Denn anders als die Werbeindustrie, die diese Sehnsüchte lediglich vermarktet, verbinden die Bauern diese Begriffe mit einer Welt, die für sie noch in Ordnung war.
Längst aber vergilbt das Bild vom zufriedenen Bauerndasein. Mehr als 90 Prozent aller Züchter betreiben ihre Landwirtschaft bestenfalls als Nebenerwerb. Ihr Geld verdienen sie in Büros, Hotels oder Amtsstuben.
Allesamt als Bauern a. D. Der Kuhkampf dient deshalb so manchem als Anker in die Vergangenheit. Andere sehen in den Eringern jedoch ein Beispiel für gesunde Bockigkeit. Die Eringer haben sich weder eine höhere Milchleistung anzüchten noch ihre Rauflust nehmen lassen. Wegen dieser Unberechenbarkeit werden sie von ihren Besitzern geliebt, von den Zuschauern bewundert. Denn sie stehen für eine Freiheit, wie sie sich viele wünschen.
Die Walliser Bauern haben einiges mit ihren archaischen Tieren gemein. Im Kuhkampf leben sie ihre Traditionen aus und setzen damit ein Zeichen gegen eine Moderne, die regionale Eigenheiten überbügelt und den Menschen ihre Identität stiehlt. Mit ihren Kühen haben sie für ihren Widerstand einen probaten Werbeträger, mit den Kuhkämpfen eine Arena, in der sie Mitstreiter nicht nur in der Bauernschaft suchen könnten.

Die Kämpfe
Die Kuhkämpfe wurden lange inoffiziell auf den verschiedenen Alpen abgehalten, bis die Kämpfe 1923 in ein festgelegtes Regelwerk überführt wurden. Insgesamt finden im Wallis jedes Jahr rund ein Dutzend Kuhkämpfe statt, die meisten von ihnen im April und Mai, die anderen im August und September. Den krönenden Abschluss bildet der Kampf in Martigny. In den regionalen Vorkämpfen werden die besten sechs Kühe ausgezeichnet, die sich damit für das kantonale Finale in Aproz qualifizieren. Mehr als 50.000 Zuschauer besuchen diese Kämpfe, allein 10.000 pilgern nach Aproz. Das Finale wird inzwischen auch vom Westschweizer Fernsehen direkt übertragen. Wie viele Vorkämpfe und Kämpfe es gibt, wann und wo diese stattfinden legt der Wallis Ehringerverband jedes Jahr aufs Neue fest. Ähnliche Kuhkämpfe wie im Wallis werden auch im Aostatal durchgeführt. Dort finden alljährlich rund 20 Wettbewerbe statt.

Eringer Kühe
Die Eringer Rasse ist eine regionale Rasse, die ausschließlich aus dem Wallis stammt. Nach Angaben des Schweizerischen Eringerviehzuchtverbandes sind die Eringer die letzten Überlebenden einer Rasse, die vor 5.000 Jahren den gesamten Alpenbogen von Österreich bis nach Savoyen bevölkerte. Die unifarbenen, von schwarz bis rehbraun variierenden Tiere sind mit den Rassen Castana- und Pezzatanera verwandt, die man im Aostatal findet und die wie die Eringer auch eine natürliche Rangfolge auskämpfen. Die Eringer haben einen breiten, muskulären Körper. Ihr Kopf wirkt gedrungen. Sie besitzen eine gerade Stirn und sind mit großen Hörnern ausgestattet. Alle Versuche, die Rasse auf eine höhere Milchleistung zu trimmen, schlugen in der Vergangenheit fehl. Ein Grund, warum ihr Anteil am Viehbestand von 100 Prozent Anfang des 20. Jahrhunderts auf  unter 50 Prozent 100 Jahre später sanken. Heute gibt es etwa 8.000 Tiere.  Allerdings steigt der Bestand wieder an – auch dank der Popularität der Eringer Kühe. Einige Züchter, Metzger und Restaurants haben sich zusammengeschlossen, um deren Fleisch als regionale Besonderheit besser zu vermarkten. Ein Gütesiegel für Walliser Eringerfleisch wird gerade vorbereitet.

Service Kuhkämpfe
Wer sich für die Kuhkämpfe interessiert, findet Orte und Daten auf der Internetseite des Tourismusverbandes Wallis. Klicken Sie einfach auf www.wallistourismus.ch, dort „Culture“ und dann „Combat du Reines“. Weitere Informationen über Kuhkämpfe finden Sie beim Schweizerischen Eringerzuchtverband (www.racedherens.ch); ein Werbefilm vermittelt einen kleinen Eindruck von den Kämpfen  unter www.reines.ch. Informationen erteilt auch der Tourismusverband „Valais Tourism“ in Sion (Rue Pré Fleuri 6; P.O. Box 1469, Ch-1951 Sion), unter Tel. +41 (0)27 327 35 70 oder info@valaistourism.ch, info@valaistourism.ch