Selbsthilfe mit System

In Ravensburg wohnen Jung und Alt zusammen und bilden eine Solidargemeinschaft. Dass Engagement und Freiheit auf Dauer harmonieren, stellt ein hauptamtlicher Sozialarbeiter sicher. Damit sind die „Lebensräume“ ein einmaliges Konzept in Deutschland.

Ursula Metzger sitzt in ihrem Wohnzimmer und trinkt Kaffee. Die 70-Jährige registriert die schwatzenden Nachbarn im Hof, hört die lachenden Kinder auf dem Spielplatz und genießt das Alleinsein. Weil sie weiß, dass sie nur die Tür aufmachen bräuchte, um sich in die Gemeinschaft stürzen zu können. „Diese Freiheit ist wunderbar“, sagt die 70-Jährige.

Vor sechs Jahren hat sie ihr großes Eigenheim gegen das kleine Appartement in der Ravensburger Hausgemeinschaft „Weinbergstraße“ eingetauscht. Ein Jahr zuvor war ihr Mann unerwartet gestorben. Das gemeinsame Haus lastete auf ihren Schultern wie der Stein auf einem Runengrab.

Nun aber trägt sie ihre Haare kurz, unterstreicht ihre Augen mit Lidschatten und greift an besonderen Tagen auch mal zu Rouge und Lippenstift. Nach wie vor lebt sie alleine, fühlt sich jedoch als Teil einer großen Gemeinschaft aus jungen Familien und alten Menschen, aus Engagierten und Hilfebedürftigen. Mit den einen wandert sie im Allgäu, geht paddeln oder besucht die Bregenzer Festspiele. Den anderen steht sie bei – so wie es ihre Zeit zulässt.

Drei Jahre hat sie ihrer 94-jährigen Nachbarin beim An- und beim Ausziehen geholfen. „Das gab mir das Gefühl, noch gebraucht zu werden“, sagt Ursula Metzger.  Nun hat sie das Amt an eine Bewohnerin abgegeben. Etwas für andere tun können, mit der Möglichkeit, das Amt auch wieder zu lassen, versteht Ursula Metzger als großes Glück.

Nach diesem Motto wollen viele Menschen alt werden. In einer Gemeinschaft leben, ohne die Enge einer Familie. Dafür sind 65 Prozent der Seniorinnen und Senioren bereit, noch einmal umzuziehen. Deshalb boomen alternative Ansätze für das Wohnen im Alter. Viele dieser Hausgemeinschaften entstehen in Eigeninitiative.

In Ravensburg hat die St. Anna-Hilfe, ein Tochterunternehmen der Stiftung Liebenau, 1996 die „Lebensräume“ initiiert und damit einem neuen Konzept zum Durchbruch verholfen. Entwickelt hat es Gerhard Schiele. „Man kann die Versorgung der alten Menschen in nächster Zukunft nicht mit Pflegeheimen bewältigen“, sagt der Leiter der Altershilfegesellschaft der St. Anna-Hilfe. Der demographische Wandel erfordere deshalb Systeme, die mehr auf Selbsthilfe setzten.

Die Lebensräume sind so ein System. Hier wohnen Menschen aus unterschiedlichen Altersgruppen, mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Defiziten bewusst zusammen und bilden eine Solidargemeinschaft. Eine, die nicht auf Zwang, sondern auf Freiwilligkeit fußt und damit das alte System der Großfamilie an die Gegenwart anpasst. Sicherheit und Freiheit bilden in den Lebensräumen ein Gegensatzpaar. Die Eckpunkte unter einen Hut zu bringen, ist alles andere als einfach. Gerhard Schiele: „Das funktioniert auf lange Sicht nur, wenn man das Selbsthilfesystem zumindest teilweise professionalisiert.“

In Ravensburg übernehmen das die Gemeinwesenarbeiter. Das kleine Büro von Harald Enderle und Karin Bruker liegt neben der Bibliothek und dem hellen Gemeinschaftsraum, dem „Wohnzimmer“ der Lebensräume. Vor dem Eingang steht ein Tisch mit Büchern, die man tauschen oder auch kaufen kann. Die beiden Sozialarbeiter teilen sich den Halbtagsjob. Heute sitzt Karin Bruker am Schreibtisch und telefoniert. Termine müssen vereinbart, Senioren für die Kinderbetreuung gefunden, einigen Bewerbern für eine frei gewordene Wohnung zu-, den anderen abgesagt werden.

Die beiden Gemeinwesenarbeiter verstehen sich nicht als Animateure, vielmehr als Herzschrittmacher, die Impulse der Bewohner aufgreifen, sie zu einem gemeinsamen Takt verdichten und Aussetzer im Organismus der Hausgemeinschaft zu vermeiden suchen.

Nimmt man den Organisationsplan am schwarzen Brett als Gradmesser, dann schlägt das Herz der Gemeinschaft gesund und kräftig. Wer sich davon überzeugen will, den führt Karin Bruker durch die Wohnanlage. Vier Häuser stehen in einem bunten Garten. Drinnen fallen die breiten „Laubengänge“ auf, in denen Stühle und Sessel stehen, Schränke und grüne Pflanzen. In einer Ecke sitzen drei Senioren und spielen Mensch-Ärgere-Dich-Nicht.

Wer sich engagieren will, der kann unter drei Dutzend „Ämtern“ wählen. Und sie auch wieder ablegen. „Gerade deshalb funktioniert unser Netzwerk seit zwölf Jahren“, sagt Enderle. Für die Sozialarbeiter bedeutet diese Regelung jede Menge Arbeit. Weil sie Nachfolger suchen müssen, wenn jemand aus einem Amt ausscheidet.

Finanziert wird die Gemeinwesenarbeit aus einem Sozialfonds. Der speist sich aus Spenden und Zuschüssen, vor allem aber aus den Gewinnen, die der Verkauf der Wohnungen erbrachte. Voraussetzung dafür sei, so Gerhard Schiele, dass die Stadt oder die Gemeinde ein Grundstück kostenlos zur Verfügung stelle, auf dem die Wohnanlage errichtet werden könne.  Alternativ kann sie auch Kapital zur Verfügung stellen. Dieses Kapital fließt wie die Mehreinnahmen aus dem Verkauf einiger Wohnungen in eine Stiftung. Die Zinsgewinne werden ausgeschüttet und damit die Gemeinwesenarbeit auf Dauer gesichert.

Diese Konstruktion hat aus Sicht von Gerhard Schiele für die Kommunen einen entscheidenden Vorteil: „Wer das Grundstück überlässt, stellt die soziale Betreuung auf Dauer sicher.“ Das Modell funktioniert. Inzwischen existieren 24 Lebensräume an 23 Standorten. In Ravensburg unterhält die Stiftung Liebenau bereits zwei Wohnanlagen mit insgesamt 134 Wohnungen und 200 Bewohnern. 

Die Wohnanlage „Weinbergstraße“ wirkt von außen wie eine Burg mit herunter gelassenen Brücken. Allerdings stimmt das Bild so nicht. In Wirklichkeit sind die Lebensräume ein Organismus, der in den Stadtteil hineinstrahlt, sich mit anderen Organisationen und Institutionen vernetzt und an die Nachbarn viele Angebote macht.

Schließlich sind die Lebensräume in Ravensburg nicht nur Wohnanlage, sondern auch ein vom Familienministerium anerkanntes Mehrgenerationenhaus.

Ein Angebot des Mehrgenerationenhauses ist die von Seniorinnen angeleitete Kleinkindbetreuung „Klimbim“ für junge Mütter. An diesem Morgen tobt ein halbes Dutzend Kinder durch den Gemeinschaftsraum. An einem kleinen Tisch stehen Trinkflaschen und Teller mit angeknabberten Brezeln. Zwei Kinder stapeln Legosteine aufeinander, die anderen rennen durch den Raum. Nur Anton hat einen schlechten Tag erwischt. Er will zu seiner Mama. Sehnsüchtig blickt er zur Tür. Immer wieder schnieft er, drückt sich an die Schulter von Anne Schlüter.

Die ehemalige Grundschullehrerin engagiert sich zusammen mit Waltraud Klingemann ehrenamtlich für „Klimbim“. Beide Seniorinnen leben nicht in der Wohnanlage, sind aber Teil des Klimbim-Teams, das drei Mal pro Woche die Kleinkinder von Bewohnerinnen und Bewohnern der Lebensräume sowie der Nachbarschaft betreuen. „Ich liebe Kinder über alles und nachdem meine eigenen schon aus dem Haus sind, engagiere ich mich hier für Klimbim“, sagt die 62-Jährige.

Klimbim ist eines von vielen Angeboten des Mehrgenerationenhauses. Auch ein Café gehört dazu, das Jugendliche des Berufsbildungswerks Adolf Aich gGmbh, eine Tochtergesellschaft der Stiftung Liebenau, für Senioren in der Wohnanlage Gänsbühl organisieren. Außerdem wurde eine Beratungsstelle eingerichtet, in dem älter werdende Menschen über Betreuungsangebote informiert werden, die es ihnen erlauben in ihren Wohnungen zu bleiben. 

Zweimal pro Woche, am Mittwoch- und Freitagmittag, pilgern viele Bewohner in den Gemeinschaftsraum. An diesem Tag gibt es einen Mittagstisch. Das Essen kommt aus der Großküche. Die neun Frauen aus der Hauswirtschaftsgruppe richten es, organisiert in Zweiergruppen, an und servieren es. Laut geht es zu. Die Bewohner stehen zusammen, reden und lachen, während die Kinder zwischen den Tischen toben und sich mal der Mutter, mal einer der vielen „Omas“ in die Arme werfen.

Die Wohnanlage ähnelt einem kleinen Dorf, in dem jeder jeden kennt. Natürlich gibt es Eifersüchteleien und Reibereien, manchmal fliegen auch die Fetzen. Zum Beispiel als eine türkische Familie einziehen wollte, in der die Frau ein Kopftuch trug. Plötzlich debattierte „das Dorf“ über Kopftücher, den Islam und alle Vorurteile brodelten an die Oberfläche. Als eine Familie mit dem Auszug drohte, falls die türkische Familie einziehe, lautete das Urteil einhellig: „Dann zieht ihr einfach aus.“ Inzwischen hat sich die türkische Familie in die Gemeinschaft integriert. Die Frau trägt weiterhin ihr Kopftuch, es ängstigt nur keinen mehr.

Wer neu in der Wohnanlage einziehen darf, darüber bestimmt auch Ursula Metzger als Mitglied im vierköpfigen Bewohner-Beirat. Der tagt, wenn eine Wohnung, sei es weil jemand gestorben ist, sei es, weil eine Familie ein zweites Kind bekommen hat und die Wohnung deshalb zu klein ist, frei geworden ist. Über mangelnde Nachfrage muss sich keiner Sorgen machen. Eher stellt die Vielzahl der Interessenten und Bedürftigen den Beirat vor ein Problem.

Gemeinsam mit Sozialarbeiter Harald Enderle müssen sie entscheiden, ob sie jemanden den Zuschlag geben, der Hilfe leisten kann oder eher der Hilfe bedarf. „Da schlagen bei uns jedes Mal zwei Herzen in der Brust“, sagt Ursula Metzger. Einig sind sich alle darin, dass die Gemeinschaft nur funktionieren kann, wenn sich Hilfebedürftige und Starke die Waage halten. „Manchmal müssen wir egoistisch sein“, erklärt die 70-Jährige. Schlaflose Nächte hat sie deshalb trotzdem. 

In den vier Häusern wohnen zehn Nationalitäten. Die Bewohner leben nicht nebeneinander her, sondern gestalten ihren Alltag zusammen. Das gilt nicht nur für fremde Kulturen, sondern auch den Umgang mit behinderten und pflegebedürftigen Menschen und dem Tod. „Über die Jahre ist die soziale Kompetenz stetig gewachsen“, sagt Harald Enderle. Entsprechend groß ist das Selbstvertrauen, Konflikte auch lösen zu können.

Diese soziale Kompetenz kann man nicht verordnen. Sie muss wachsen. Die Ravensburger Hausgemeinschaft beweist, dass die Bürgergesellschaft, wie sie Politiker als theoretisches Modell gerne postulieren, funktionieren kann. Allerdings nur, wenn Kommunen diesen Prozess auch aktiv steuern. Er wäre zum Vorteil der Gesellschaft. „Durch die soziale Einbindung der alten Menschen in ein Selbsthilfenetzwerk verhindern wir Pflegebedürftigkeit oder verschieben sie um einige Jahre“, zitiert Gerhard Schiele erste Ergebnisse einer Untersuchung, die die Stiftung Liebenau zusammen mit anderen Trägern und der Bertelsmann-Stiftung derzeit durchführt. Es geht also um viel Geld, es geht aber vor allem um ein Altern in Würde.

Wenn Ursula Metzger die Kinder ihrer Nachbarin hüten kann, dann ist dies ein Geschenk - für die Kinder, ihre Mütter und die 70-Jährige. In den beiden Ravensburger Hausgemeinschaften beschenken sich die Generationen mit System. Indem sie sich gegenseitig helfen ohne aufzurechnen. Dadurch ist eine Freiheit entstanden, die sich nicht aus der Verantwortung stiehlt, sondern erst durch sie zu Leben erwacht. Ursula Metzger fühlt sich lebendig, ein Gefühl, das ihr die Gemeinschaft spiegelt. Für Einsamkeit ist da kein Platz.