Sehnsucht Unterricht

Im Future Online Social School-Projekt unterrichten Schüler behinderte Menschen im Umgang mit Computern.

Schüsse hallen durch den Raum, vermischen sich mit dem Wummern hoch drehender Automotoren und den genervten Kommentaren, wenn Schüler mal wieder ein Moorhuhn verfehlt oder mit ihrem rasenden Fahrzeug die Kurve übersehen haben. Die Geräusche erinnern mehr an eine Spielhölle als an ein Klassenzimmer. Doch in Raum N13 der Adalbert-Raps-Schule im oberfränkischen Kulmbach ist nicht nur der Lärmpegel außergewöhnlich. Die Lehrer zählen hier höchstens 21 Jahre und drücken selbst noch die Schulbank. Doch als Teil ihres Unterrichts schulen sie behinderte Menschen im Umgang mit Computern.

Jenny hilft Sebastian, Maus und Tasten so zu kombinieren, dass Mohrhühner vom virtuellen Himmel fallen. Josef wiederum will von Christian wissen, wie er seine im Heim aufgenommene Videosequenz am Computer bearbeiten kann. Future Online Social School (FOSS) nennt sich das ungewöhnliche Projekt. Ins Leben gerufen wurde es vom Förderverein der Adalbert-Raps-Schule. Die Idee: „Schüler unterrichten behinderte Menschen im Umgang mit Computern, um ihnen ein neues Fenster ins Leben zu eröffnen und lernen dabei selbst den intensiven Umgang mit behinderten Menschen“, sagt Projektleiter John van der Galiën.

Im Jahr 1998 wurden die ersten Computer angeschafft, ein Raum in der Schule ausgestattet und die Stelle für den holländischen Informatiker eingerichtet. Mehr als 500.000 Euro hat der Förderverein in das Projekt investiert; finanziert mit Mitteln von EU, dem Land Bayern und aus privaten Spenden. Davon profitieren nicht nur die behinderten Menschen, sondern auch die Schülerlehrer. Für sie ist der Unterricht Teil ihres Praktikums, das sie in der elften Klasse des sozialen Zweigs der Fachoberschule durchlaufen. Sie lernen nicht nur mit Computern und Programmen umzugehen, sondern erwerben auch „soziale Kompetenzen“.

Für die behinderten Menschen wiederum sind die 90 Minuten Unterricht pro Woche „eine besondere Auszeit, die sie kaum erwarten können“, weiß Doris Küffner. Deshalb freut sich die Sozialpädagogin in der Werkstatt für Behinderte jeden Montagnachmittag, wenn Christian mit seiner Baseballmütze, Jenny mit den schwarzen Haaren und die anderen Jungpädagogen ihre Einrichtung stürmen, Kabel verlegen, ihre Notebooks auspacken und innert Minuten das Besucherzimmer in einen Computerraum verwandeln.

Das ist nicht einfach, weil sich die behinderten Schüler schon in den Raum drängeln, um ihre Mentoren zu begrüßen. Bei einem Handschlag bleibt es selten, weiß Christian inzwischen, „die umarmen dich einfach.“

Acht Schüler betreut der 19-Jährige pro Woche. Entweder in der jeweiligen Einrichtung oder im FOSS-Projekt. Vor jeder Stunde richtet er seinen Computer für seinen neuen Schüler ein, lädt die nötigen Programme oder druckt ein paar Graphiken oder Bilder aus. „Manche wollen nur spielen, andere werden wütend, wenn sie ihr Ziel nicht erreichen, die meisten aber freuen sich auf die konzentrierte Aufmerksamkeit, die wir ihnen entgegenbringen“, sagt Christian leise und grinst unter seiner Baseballmütze hervor.

Anfangs bereitet die intensive Begegnung mit den behinderten Menschen allen Schwierigkeiten, erzählt Jenny. Das jedoch ist vollkommen normal, weiß John van der Galiën. Um den Ängsten zu begegnen, erzählt er den Schülern des neuen Schuljahres erst einmal von seiner Anfangszeit. Damals wurde er, der sich als Informatiker im Fraunhofer-Institut vornehmlich mit Zahlenketten, Logarithmen und logischen Befehlsketten beschäftigt hatte, plötzlich mit Menschen konfrontiert, die sich an die Grenzen des Miteinanders nicht hielten, sondern ihren Eingebungen folgten, dem Holländer auf die Pelle rückten, seine geordnete Welt mächtig durcheinander wirbelten, ohne dass Logik ihm aus der Patsche half. Vielleicht ein Grund, warum er in Kulmbach anfangs nur ein Jahr bleiben wollte. Inzwischen sind daraus sieben Jahre geworden. Die anfallenden Überstunden zählt er schon lange nicht mehr. Honoriert wird er dafür ohnehin in einer Währung, die in der Marktwirtschaft nichts zählt. „Die Wärme, Herzlichkeit und Liebe, die behinderte Menschen uns entgegenbringen, erfahre ich im so genannten normalen Arbeitsleben nirgends“, erzählt van der Galiën.

Diese Erfahrung müssen seine Schüler selber machen. Deshalb schickt der Informatiker sie zu einem Praktikum in die Behinderteneinrichtungen. Dort stehen sie am Fließband, verrichten die gleichen monotonen Tätigkeiten wie ihre künftigen Schüler, trinken und essen mit ihnen im Pausenraum und kommen sich langsam näher, berichtet Jenny von ihren ersten Tagen im Projekt. „Meine Vorurteile haben sich nicht bestätigt. Im Gegenteil. Behinderte sind so liebe Menschen, mit denen man superklar kommt und das ist klasse“, sagt Jenny.

Durch die Schüler lernen die behinderten Menschen Computer und Internet zu nutzen, zum Beispiel Horst, der sich mit Sandra im Internet auf die Suche nach einer Brieffreundin macht. Der Wert des Projektes liegt jedoch auf einer anderen Ebene, wie das Beispiel von Bastian zeigt.

In seinem ersten Leben verdiente der schwarzhaarige, damals 18-Jährige mit dem Ring im Ohr sein erstes Geld, zog mit Freunden durch die Kneipen, engagierte sich im Sportverein und flirtete mit den Mädchen der Stadt, erzählt er zehn Jahre später. Sein zweites Leben begann, als sein Auto frontal gegen ein anderes prallte, er mit wahnsinnigen Schmerzen aus dem Koma erwachte und viele Wochen zwischen Leben und Tod schwebte.

Den Tod hat er besiegen können, seine Gesundheit ist dabei aber auf der Strecke geblieben. Er geht so schnell wie ein Greis. Wenn er spricht, haucht er die Worte nur, ohne ihnen Kraft, ohne ihnen die vertraute Kontur geben zu können. Doch seine eigene Situation reflektiert er genau. „Gleichaltrige, die mich sehen, wechseln die Straßenseite, drehen sich um oder gehen in einen Laden. Und das Schlimme ist, die glauben, ich sehe es nicht“, sagt er.

Der einzige Kontakt in die ‚normale’ Gesellschaft sind die eigenen Eltern, Nachbarn und seit es FOSS gibt, die Schüler des Projektes. Dort genießt er einen Sonderstatus. Also wandert er fast täglich zwischen den Computern hin und her, haut in die Tasten, rückt so nahe wie möglich an seine Lehrerinnen ran und genießt diese selten gewordene Nähe.

Doch gleichzeitig konfrontiert sie ihn mit seinen Sehnsüchten, mit dem Wunsch nach einer Partnerin fürs Leben und mit Grenzen, die er vielleicht nie mehr wird überwinden können. Der 28-Jährige weiß das. Er spürt wie die Einsamkeit an seiner Seele nagt. Er stützt sich auf die Hoffnung wie eine alter Mann auf seinen Krücken und versteckt seinen Schmerz hinter viel Humor.

Im Projektraum hängt sein Foto an der Wand - umgeben von lächelnden Gesichtern. Von Gleichgesinnten, die ihr Los – vielleicht - leichter ertragen, weil sie schon behindert geboren wurden. Die lachenden Porträts aber zeigen auch Menschen, die stolz an ihren Computern sitzen, die an der Aufmerksamkeit genesen, die ihnen die jungen Menschen entgegenbringen und die keine Sekunde missen wollen. Kein Wunder also, dass in den sieben kooperierenden Einrichtungen lange Wartelisten existieren.

Doch für mehr Schüler reichen die Kapazitäten und finanziellen Mittel nicht, sagt John van der Galiën bedauernd. Der Holländer freut sich schon, wenn das sechs Jahre alte Equipment ohne Mucken funktioniert, die neuen Notebooks bei keinem der Transporte beschädigt werden und der Förderverein für ein weiteres Jahr genügend Spenden gesammelt hat.

Auch zum Wohle der Stadt. Mit Hilfe des Projektes wird die Bierbrauermetropole Kulmbach über die nationalen Grenzen hinaus bekannt. So interessieren sich zahlreiche Institutionen und Schulen aus anderen Bundesländern, aber auch aus Skandinavien und Finnland für das Projekt. Selbst in Brüssel konnte eine Schüler-Delegation das Kulmbacher Modell bereits vorstellen. Doch bisher hat es keine andere europäische Schule umgesetzt. Aus Kostengründen, vermutet John van der Galiën. Das ist schade. Denn das Projekt wäre es allemal wert, in der Zukunft häufiger kopiert zu werden.