Trautes Heim, Glück vereint

Eine Freiburger Hausgemeinschaft pflegt eine 93-jährige Nachbarin. Und ermöglicht ihr damit, in der eigenen Wohnung zu bleiben.

„Früher als ich noch ein Kerle war“, sagt Anneliese mit badisch eingefärbtem Akzent und legt ein wenig Groll in ihre Stimme. Dann verliert sie den Anschluss, weil die Gedanken die 93 Jahre alte Frau längst fortgerissen haben. So verhallt der Satz unfertig in der warmen Stube.
Als sie noch „ein ganzer Kerl“ war, da hat sie geschuftet, zwei Weltkriege miterlebt, gehungert, einen Mann lieben gelernt, ihn zu früh beerdigt, zwei Kinder groß gezogen. Und heute? „Da kann ich mir selbst nicht mal mehr kochen. Es ist zum aus der Haut fahren“, sagt sie, blickt mit gespieltem Ernst in die Runde, haut dann die Hand auf den Tisch und lacht, bis die vielen Falten in ihrem Gesicht Boogie-Woogie tanzen.
Die Frau mit den weißen Haaren und der dicken Brille auf der Nase gehört zu jener Sorte Mensch, die lachen und schmunzeln, auch wenn die Gelenke schmerzen, das Herz sticht und selbst der Weg in die Küche zu einer Weltreise wird. Schließlich wohnt sie noch immer in ihren vier Wänden. „Und wer das darf, der ist Millionär", sagt sie.
Dieses Geschenk verdankt Anneliese ihrer robusten Natur und vor allem den Mitbewohnern im Haus. „Die haben versprochen, für mich zu sorgen, weil ich sonst wohl in ein Pflegeheim müsste“, sagt sie. Seit ihrem Herzinfarkt vor bald zwei Jahren hat sie ihre Selbstständigkeit eingebüßt und das ärgert die schmal gewordene Frau in ihrer weinroten Strickjacke ungemein.
„Sie vergisst, ihre Tabletten zu nehmen, zu trinken oder zu essen“, sagt Detlev, der Arzt mit dem wilden Bart und der lichten Stirn. Der 45-Jährige lebt mit seiner Frau Marion und den beiden Kindern Lea und Luis ein Stockwerk über der alten Dame. Zwar hat Annelieses Tochter ihr einen Alarmknopf besorgt, mit dem sie im Notfall eine Zentrale verständigen kann, aber der Arzt hat Zweifel, ob sie ihn dann auch noch drücken kann.
Deshalb schaut jeder im Haus nach ihr. Christian aus dem ersten Stock kauft ihr das Brot, die 18-jährige Lea saugt ihre Wohnung. Wenn Anneliese morgens noch schläft, bringt Krankenpfleger Alfred aus dem zweiten Stock die Tageszeitung nach oben. Seine Frau Marianne stellt eine Kanne Tee auf den Tisch, legt ein Zettelchen „Tee ist in der Kanne. Trinken nicht vergessen!“ daneben und positioniert die Tabletten so, dass die Herzkranke sie nicht übersehen kann. Klingeln müssen sie nicht, die Tür ist immer angelehnt.
Marianne kennt sich in den Schränken der 93-Jährigen inzwischen besser aus als sie selbst, weil sie regelmäßig Tischdecken und Bettwäsche wechselt, die Kleidung wäscht, Medikamente, Putzmittel, Kaffee oder Mehl einkauft. „Sie vertraut uns“, sagt die 49-jährige Frau mit den kurzen braunen Haaren, „das macht es sehr viel leichter“.
„Hallo Oma, ich bin's“, poltert Luis ins Wohnzimmer. Der Zehnjährige lässt seinen Schulranzen fallen, gibt der Oma einen Kuss und geht erst einmal zielstrebig zu dem kleinen Schränkchen an der Wohnzimmertür. Dort stibitzt er sich ein Stück Schokolade, grinst und lässt sich neben der alten Dame auf den Stuhl plumpsen. „Danke Oma“, sagt er. Das Wort kommt wie selbstverständlich über die Lippen. Sie ist seine Oma. Denn die leiblichen Großeltern wohnen weit weg.
Früher als sie ihrem Spitznamen „rauchende Sohle“ noch Ehre machte, da passte sie erst auf Lea auf und dann auf ihren Bruder Luis. „Wenn ich bei der Oma war, habe ich meinen Eltern immer hinterher gerufen, `Geht, geht jetzt endlich´. Dann saßen wir auf dem Sofa, haben Fernsehen geschaut oder Reversi gespielt und ab und zu habe ich bei ihr übernachtet“, erinnert sich der aufgeweckte Junge. Diese Erlebnisse haben sich in seine Erinnerung eingebrannt. Wie auch der Schreck, als die Oma im Krankenhaus fast gestorben ist. „Da stand er fiebernd dabei“, erzählt sein Vater,  „und wir haben gesehen wie viel Liebe unsere Kinder für sie empfinden.“ Sie zeigt sich, wenn Luis die Oma drängelt, ihren Tee zu trinken, oder fragt, ob sie schon etwas gefrühstückt oder ihre Tabletten genommen hat. Und wenn sie die Gängelei zu ärgern beginnt, ruft er einfach, „Du darfst noch nicht gehen oder willst du uns etwa verlassen?“ Da verpufft ihr Grummeln und mehr als ein „nein“ fällt ihr dann auch nicht ein.
„Essen ist fertig“, ruft Marion von oben. Luis eilt die knarrenden Holzstufen hinauf. Nach einigen Minuten kehrt der schlaksige Junge mit einem Tablett zurück. Sofort riecht es nach geschmolzenem Käse. Luis stellt den Teller auf den Tisch, legt eine Serviette, Messer und Gabel daneben, ruft noch „Morgen bringt dir Lea das Essen“ und eilt die Stufen hinauf. Die Kässpätzle seiner Mutter will er sich nicht entgehen lassen.
Diese familiären und menschlichen Begegnungen halten Anneliese genauso am Leben wie die Herztabletten in dem Schächtelchen unter der kleinen Kuckucksuhr, der Tee in der Kanne oder die Vertrautheit ihrer eigenen vier Wände. Wenn sie das Fenster öffnet, hört sie die Freiburger Dreisam plätschern. Sie schaut auf die grünen Hügel des Schwarzwalds und die Dächer der schnell hoch gezogenen Häuserblocks in der Nachbarschaft. Als sie 1962 mit ihrem Mann Franz in der Bleichestraße die Drei-Zimmer-Wohnung mietete, stand das Haus noch auf einer grünen Wiese. Heute liegt das Viertel im Herzen der Stadt.
Die Jahre sind vergangen, Wohnung und Haus zu einem Ort der Erinnerungen geworden. Sie blickt auf den verwilderten Garten, den sie so viele Jahre gepflegt hat, hört die groß gewordenen Kinder die Treppe hinunterhetzen. Und noch immer sitzt sie am gleichen Tisch, an dem ihr Mann vor mehr als 30 Jahren einfach zusammensackte. „Geht es dir nicht gut, habe ich ihn gefragt. Er hat es wohl nicht mehr gehört“, erklärt Anneliese leise und schaut zu dem Bild, das sie an der Seite eines jungen Mannes in Motorradmontur zeigt.
„Ich hab in ihm den Himmel gesehen“, sagt sie über den Mann, der sie aus ihrer Familie, aus ihrer Hölle befreit hat. Als unehelich geborenes Mädchen haben die Stiefschwestern ihr übel mitgespielt. Anneliese verliert darüber nur wenige Worte. Vierzehn Tage vor ihrer Hochzeit erhängte sich ihre Mutter; „ich habe sie vom Balken abgeschnitten“, erzählt sie. Geheiratet hat sie dennoch - in einem schwarzen Kleid mit weißem Schleier. 
Anneliese hat in ihrem Leben viele Schicksalsschläge einstecken müssen. Sie hat sie genommen, ohne darüber zu lamentieren, ohne mit der Welt zu hadern. Stattdessen hat sie sich an den schönen Dingen festgehalten und sich engagiert. In der Kirche, im Altersheim, in der Bleichestraße, wo die Mieterin das Kommando führte, ohne jemals pedantisch oder spießig zu sein. „Wenn die Treppen schmutzig waren, dann habe ich sie halt von oben bis unten geputzt.“ Ohne ein Wort darüber zu verlieren und ohne sich die Laune darüber verderben zu lassen, wenn „wir Jungen mal wieder den Dreck übersehen haben“, erinnert sich Marion mit einem Lächeln.
Als sie einzog studierte sie Sport, heute betreut sie selbst Studenten am Sportinstitut. Über 17 Jahre teilt sie mit Anneliese das gleiche Dach. „Sie hat die Handwerker rein gelassen und unsere Schlüssel verwaltet und wenn wir unseren vergessen hatten, konnten wir bei ihr klingeln“, erzählt die rothaarige 46-Jährige mit den Sommersprossen im Gesicht. „Wenn ich mich bei der Arbeit verspätet habe, wusste ich die Kinder wohl versorgt bei Oma Hubbuch auf dem Sofa. Wir hatten die unglaubliche Freiheit, weggehen zu können, ohne Organisationskram, ohne Babysitter, weil sie immer für uns da war.“
Die Rolle der Oma war ihr auf den Leib geschrieben und irgendwann nannten sie fast alle einfach „Oma Hubbuch“. Einen Teil ihrer Hilfsbereitschaft wollten ihr die Mitbewohner im Haus gerne zurückgeben. Die Gelegenheit bot sich, als Anneliese zu ihrer Tochter ziehen sollte, um dort im Notfall einfacher gepflegt werden zu können. Die Vorstellung, ihre Bleibe zu verlassen, stürzte die so tatkräftige Frau in eine schwere Krise. Damals hackte sie ihr Holz noch selbst, schleppte die Kohlen in den dritten Stock und schob Senioren, die jünger als sie waren, im Rollstuhl die Dreisam entlang. Nun aber sprach „sie nur noch vom Sterben, weil sie nicht wegziehen wollte, sich ihrer Tochter gegenüber aber verpflichtet fühlte“, erinnert sich Marion. Das Ehepaar aus dem vierten Stock machte ihr deshalb das Angebot: „Du musst nicht aus deiner Wohnung, wenn nötig sorgen wir für dich.“ Am Ende blieb sie.
Hilfe braucht die einst rüstige Frau erst seit ihrem Herzinfarkt. Seither begleitet Marion Oma Hubbuch zwischen Arbeit und Kinderbetreuung zum Friseur und Arzt, holt die Post und hilft ihr beim Duschen. Täglich kocht sie eine zusätzliche Portion. Ob Spätzle mit Linsen, Karotten-Ingwersuppe, Spaghetti oder thailändisches Gemüse, Oma Hubbuch isst, was auf den Tisch kommt. „Wenn ich etwas zum Essen bekomme, ist es recht, und wenn nicht, mache ich mir auch mal ein Brot“.
Ansprüche stellen ist ihre Sache nicht. Dafür freut sie sich, wenn sich die Hausbewohner in ihrer Wohnung treffen, wenn „Remmidemmi ist“, sie den Eierlikör aus dem Schrank holen, allen kräftig einschenken und mal wieder Gastgeberin sein darf. Je lauter es dann zugeht, desto wacher blinzeln ihre blauen Augen. Sie flirtet mit den Mannsbildern, lässt sich umarmen und freut sich wenn alle über ihre Anekdoten lachen.
In diesen Augenblicken treffen in dem geräumigen Wohnzimmer mit dem roten Sofa und den vergilbten Tapeten drei Generationen zusammen. „Wir leben die Großfamilie ohne die komplizierten familiären Bande. Seit wir intensiver nach Oma Hubbuch schauen, sind wir noch näher zusammengerückt“, schwärmt Detlev über dieses Miteinander, das Raum für Privates lässt.
Dieses Zusammenrücken registrieren Nachbarn, Großeltern und Freunde: Manche etwas neidisch. Andere mit der Sehnsucht einmal selbst so Altern zu dürfen. Ein Wunsch, der bei vielen Menschen existiert.
Viele Experten wiederum sehen in dieser Art von Engagement in der Nachbarschaft einen Ausweg aus der Gesellschaftskrise. Könnte das Freiburger Projekt also nicht auch ein Modell für andere sein?
„Ein allgemeingültiges Modell sicherlich nicht“, sagt Alfred bedächtig. Zu viele Faktoren müssen aus der Sicht des Intensivpflegers aus dem zweiten Stock fließend ineinander greifen: Sympathie, Zeit, Grad der Pflegebedürftigkeit, Sozialcourage.
Die Bewohner kommen gut miteinander aus und alle in dem Haus geben etwas von ihrer Zeit. Dafür braucht es Menschen, die wie Detlev oder Marianne bei schönem Wetter lieber zusammen an der Bierbank im Hof sitzen als nur in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Die den Mut aufbringen, auf Mitmenschen zuzugehen und sich auf Unbekanntes einzulassen. Die Auseinandersetzungen zu führen bereit sind und die anfallenden Reibereien ausräumen. Die Gewähr, dass aus ihrem Engagement eine Hausgemeinschaft wie die jetzige wird, hatten sie anfangs keineswegs.
Wer dieses Modell leben will, benötigt zudem das nötige Stehvermögen. Denn in Notfällen gerät eine Hausgemeinschaft schnell an Grenzen. In der Bleichestraße zum Beispiel, als Anneliese im letzten Jahr an einer Lungenentzündung erkrankte. Von einem Augenblick auf den anderen musste immer jemand bei der Kranken bleiben, mussten Terminpläne erstellt und die Angehörigen um Hilfe gebeten werden. Das zehrt dann an den Nerven. „Auf Dauer könnte ich das nicht leisten“, sagt Marion. Viel schlimmer war für sie die tägliche Angst, „lebt sie noch, wenn ich reinkomme?“
Ein solches Engagement lässt sich nicht verordnen. Deshalb stellt es auch an die Hilfsbedürftigen gewisse Anforderungen. So mögen Beschwerden bei einem professionellen Pflegedienst durchaus angebracht sein, eine freiwillige Initiative können sie lähmen. „Ich wüsste nicht, ob ich jemanden lange pflegen könnte, der an allem rummäkelt oder glaubt, nie genug oder immer das Falsche zu bekommen“, sagt Marianne, die als Krankenschwester derlei Verhalten von ihrem Arbeitsplatz kennt.
Da hilft eine Einstellung, wie sie Anneliese an den Tag legt. Die alte Dame jedenfalls reagiert flexibel, wenn das Essen einmal ausfällt, wenn niemand für sie Zeit hat oder der Friseurbesuch nicht klappt. Ohne falsche Demut, ohne dass sie sich verbiegen müsste. „Weil sie die Dinge so einfach und unkompliziert nimmt, macht mir das Helfen richtig Spaß“, sagt die 49-Jährige. 
Ihr Engagement empfindet Marianne denn auch nicht als Last, sondern als Bereicherung. Wie Detlev und Marion: „Oma Hubbuch ist der ruhende Pol in unserem Haus“, sagen sie  – wenn auch aus verschiedenen Gründen. Der Arzt schätzt ihre Kraft, „das Leben zu nehmen wie es kommt, ohne beleidigt zu sein, einfach mit einem Augenzwinkern“.
Und Marion findet manchmal ein Stockwerk tiefer ersehnte Ruhe, wenn zuhause gerade Tohuwabohu herrscht. Oma Hubbuch kredenzt dann einen Eierlikör, setzt sich zu Marion aufs Sofa und erzählt ihrer Nachbarin wie ihr selbst auch manchmal das Leben über den Kopf gewachsen ist. „Bei Oma Hubbuch fühle ich mich einfach geborgen“, sagt die Mutter über diese innigen Momente. „Sie ist die Seele unseres Hauses. Deshalb wünsche ich mir, dass sie mindestens 100 Jahre alt wird.“