Schlechte Jobs, gut in Szene gesetzt

US-Organizer machen in Hamburg vor, wie man Wachleute und Lagerarbeitskräfte zum Mitmachen bewegt. Erste Erfahrungen von ver.di zeigen: Mit Betriebsrat funktioniert es besser.

Die Buttons, auf denen "Hey Boss: mehr Geld" steht, gehen weg wie warme Semmeln. Es ist noch keine halb sieben Uhr morgens, und schon muss Franziska Bruder ihren eigenen von der Jacke nesteln. "Ich soll doch unbedingt einen für meine Kollegin mitbringen", hatte eine der Arbeiterinnen, die hier frühmorgens zu Hunderten ins Lager eilen, gerade gesagt. Schon ist sie weitergehuscht an ihren Arbeitsplatz, Pakete packen - mit den letzten zwei Buttons in der Hand.
Button-Tag an einem Donnerstagmorgen im Juni bei der Otto-Lagerwirtschaft, der Hermes Warehousing Solutions (HWS) in Hamburg. Der an diesem Morgen so begehrte Button ist ein altes Werkzeug gewerkschaftlichen Engagements. An ihm lässt sich erzählen, was Gewerkschaften gestern waren und was sie - folgt man den Aktivisten des Organizing-Projekts - morgen sein können.
"Ein Kollege", erzählt eine Vertrauensfrau, "hat gesagt, er habe im Gegensatz zu den Nicht-Organisierten ein Anrecht auf den Button, nur weil er ver.di-Mitglied ist." Dieses Besitzstandsdenken, sagt sie, sei doch eine "völlig dämliche" Einstellung. "So kriegen wir nichts geändert."
Franziska Bruder, 41 Jahre alt und Historikerin, passt hingegen auf, dass der Button nicht nur verteilt, sondern vor allem deutlich auf den T-Shirts getragen wird. Punktgenaue Planung eben und sorgsamer Umgang mit knappen Gewerkschaftsmitteln. "Wir wollen der Geschäftsführung mit den tausend Buttons auf den T-Shirts klarmachen, dass die Belegschaft im Ernstfall zusammensteht", sagt die Organizerin.
Ernstfall, das heißt Streik. Bislang wurde in der Lagerwirtschaft bei Otto höchstens einen Tag gestreikt, bis der Tarifvertrag unterschrieben war - ob die Belegschaft bis zum Ernstfall wirklich die Kraft entwickelt hat, zusammenzustehen und unbefristet zu streiken, ist noch lange nicht klar.
Franziska Bruder und die anderen Organizer haben die frühmorgendliche Aktion gemeinsam mit Betriebsrat, Vertrauensleuten und Mitarbeitern entwickelt und geplant. Da wurden nicht einfach Buttons und Transparente von der letzten Maidemo aus dem ver.di-Keller hervorgekramt. Sondern Transparente und Schilder von der Belegschaft selbst entworfen und eigene Buttons in Auftrag gegeben. "Die Belegschaft soll keine Schablonen von uns vorgesetzt bekommen, sondern die Dinge selbst in die Hand nehmen", sagt die Organizerin.
Da passiert es dann, dass sich die Arbeitnehmer für den Buttonspruch "Hey Boss: mehr Geld" von einem deutschen Schlagerhansel entschieden haben, mit dem Bruder nichts anfangen kann. Sie selbst hat einen riesigen Ghettoblaster mitgebracht, aus dem seit sechs Uhr spanischer Reggae-Ska zu hören ist, osteuropäischer Klezmer und italienische Revolutionsromantik. Auch das ist Strategie beim Organizing. "Gewerkschaft muss Spaß machen", sagt Bruder.
In der Hamburger Wachbranche startete die Gewerkschaft ver.di das erste Organizing-Projekt in der Bundesrepublik, im Januar 2006. Initiiert hat es Peter Bremme, Gewerkschaftssekretär für besondere Dienstleistungen bei ver.di in Hamburg. Bremme ist Pionier in Sachen Organizing. Die Methoden hat er 2003 kennen gelernt, bei einem Besuch der US-amerikanischen Dienstleistungsgewerkschaft SEIU in Chicago. Damals hatte es die SEIU geschafft, den CEO des globalen Sicherheitskonzerns Securitas zu bewegen, von seinem Sitz in Stockholm zu Tarifverhandlungen nach Chicago zu kommen.
Bremme war beeindruckt, und die SEIU half ihm dabei, in Hamburg einen weiteren Standort zu etablieren, von dem aus man die weltweit aufgestellte Wachbranche gemeinsam ins Visier nehmen kann. Sie schickte den Rechercheur Fred Seavey und die Lead-Organizerin Valery Alzaga an die Elbe, die den Hamburgern Organizing praktisch beibringen sollten.
Die Amerikaner waren überrascht, dass sie in Deutschland weder hohe Standards in Tarifverträgen noch einen nennenswerten gewerkschaftlichen Organisationsgrad in den Branchen vorfanden, sondern dass sie mit ähnlichen Formen der Zerschlagung von Gewerkschaften und Verletzungen der Arbeiterrechte wie in den USA konfrontiert waren. Noch vor fünfzehn Jahren waren die meisten Wachleute in der Bundesrepublik Angestellte der Firma, die sie bewachten, mit entsprechend dotierten Tarifverträgen.
Heute haben die meisten Unternehmen das Wachpersonal längst outgesourct, während die Sicherheitsbranche sprunghaft gewachsen ist. Mit drastischen Folgen für Bezahlung, Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzsicherheit - und einem gewerkschaftlichen Organisationsgrad bei Projektbeginn von gerade mal fünf Prozent. "Bei vielen Wachleuten bestimmt die Angst den Alltag", sagt Bremme. "Manche Arbeitgeber bedienen sich eines ausgeklügelten Systems von Bespitzelung, Intrigen und persönlichem Bedrängen der Arbeitnehmer."
Grundlegend für eine Organizing-Kampagne sind die Formulierung des Ziels, eine umfassende Recherche der Branche und ihrer Zulieferer und die Erarbeitung eines "Plan to win", in dem eine Eskalationsstrategie den Weg zum Ziel beschreibt. "Mehr Durchsetzungskraft durch mehr Mitglieder", aber auch ein neuer Tarifvertrag und neue Strukturen lauteten die Ziele, die sich das sechsköpfige Organizing-Team auf die Fahnen geschrieben hatte.
Während der Kampagne sprachen sie 1500 der insgesamt 8000 Hamburger Wachleute persönlich an und teilten sie in einem Rating genannten Verfahren in fünf verschiedene Kategorien: von der aktiv zugewandten Person (Stufe 1), die von sich aus die Kampagne unterstützt und Kollegen anschiebt, bis Stufe 5, eine Person, die feindlich gegenüber dem Thema eingestellt ist und aktiv die Kollegen von einer Beteiligung an der Kampagne, an Gewerkschaftsarbeit abhält. Beim Mapping, dem Kartografieren einer Branche, eines Betriebes oder eines Arbeitsplatzes, entsteht somit ein Bild, das Organizern zeigt, wo sie überhaupt Erfolgschancen haben, auf die sie in den Betrieben aufbauen können.
Das Organizing-Team beschäftigte sich nicht nur mit den Arbeitnehmern und ihren Arbeitsbedingungen, sondern recherchierte auch die Unternehmen, deren Kunden und das gesellschaftliche Umfeld der Branche: Daten und Informationen, die in Gewerkschaften normalerweise selten eine Rolle spielen.
So war Peter Bremme einigermaßen verblüfft, als die amerikanischen Organizer eine Liste ausgedruckt haben wollten, auf der die 400 wichtigsten Personen stehen, die in Hamburg den Ton angeben. Die gab es bis dahin nicht. "Aber natürlich ist so eine Liste eigentlich Basiswissen für die Gewerkschaften, die in dieser Stadt agieren", sagt Bremme. Die Liste half dabei, prominente Hamburger für Solidaritätsschreiben zu mobilisieren und für Presseaktionen zu gewinnen.
Die waren spektakulär und brachen mit einem geübten Ritual. Statt nur Gewerkschaftssekretäre oder Betriebsratsvorsitzende reden zu lassen, saßen auch 20 Wachleute selbst in einer Pressekonferenz, öffentlichkeitswirksam und aus Angst vor Repressalien der Arbeitgeber mit weißen Gesichtsmasken. Diese an Methoden der sozialen Bewegungen orientierten, spektakulären Aktionsformen erhöhten den Druck während der Tarifverhandlungen.
Sie führten letztendlich dazu, dass die Arbeitgeber überhaupt gewillt waren, einen Tarifvertrag mit ver.di und nicht mit einer gelben Gewerkschaft abzuschließen. Ein weiterer Baustein war die Zusammenarbeit mit den Betriebsräten, um auch in den Unternehmen der Kunden den Hebel anzusetzen. Bei Gruner & Jahr ließ sich die Geschäftsleitung von ihrem Betriebsrat überzeugen, so viel Druck auf die Sicherheitsfirma Power auszuüben, dass die sich gezwungen sah, den jahrelang verweigerten Betriebsrat gründen zu lassen.
Das Organizing-Projekt formulierte ehrgeizige Ziele. 500 Neueintritte bereits nach einem halben Jahr schrieben die Hamburger in ihren Projektantrag an den Bundesvorstand, auch um überhaupt eine Anschubfinanzierung für das Pilotprojekt zu bekommen. Dieses ambitionierte Ziel erreichten sie nicht. Lediglich 200 Neueintritte konnte ver.di Ende 2006 verzeichnen.
Doch Bremme, schlank und mit tiefer Stimme, redet nicht von einem Misserfolg. "Organizing ist kein Knopf, auf den man drücken kann, und schon sprudeln die Neueintritte", sagt der 47-Jährige. "Es geht darum, Selbstbewusstsein und Strukturen zu schaffen. Das kostet Zeit."
Bremme ist mehr denn je überzeugt, dass Organizing der entscheidende Baustein gegen den "bisher ungebremsten freien Fall der ver.di-Mitgliedzahlen" ist. "Die SEIU hat zwölf Jahre gebraucht, um ihre Mitgliederzahl zu verdoppeln", sagt er. Immerhin habe der Fachbereich mit einem Sprung von 400 auf 600 Organisierte in der Hamburger Wachbranche 2006 um die Hälfte und auch nach Projektende 2007 noch weiter zulegen können, sagt Bremme: "Das ist keine Eintagsfliege, sondern nachhaltiges Wachstum. Und das in einer Branche, in der es heißt, mein Job ist scheiße, die Gewerkschaft ist scheiße und ich bin auch scheiße."
Oktober 2007, neun Uhr morgens im Hamburger Gewerkschaftshaus. Gut 350 HWS-Mitarbeiter der Frühschicht haben sich im Raum Elbe versammelt. "Einfach geil", freut sich einer, den sie hier Locke rufen, weil er keine Haare hat, "wir sind ein gutes Team, Ost und West." Eine Frau sagt ins Mikrofon: "Jetzt sind die Grenzen wirklich gefallen." Was im Juni bei der Button-Aktion noch unmöglich schien, ist eingetreten.
Bei Otto, im outgesourcten Hamburger Lager, wird seit zwei Wochen gestreikt. Nicht nur da: Auch die HWS-Mitarbeiter im sachsen-anhaltinischen Haldensleben streiken. Das hat es in der Geschichte des Otto-Konzerns noch nicht gegeben, und der Stolz über die gemeinsam entwickelte Stärke steht den Lagerfrauen und -männern in die Gesichter geschrieben.
Die Organizer, die hier seit April zu fünft das zweite deutsche Organizing-Projekt auf den Weg gebracht haben, sind sichtlich zufrieden. Über Monate haben sie in hunderten Gesprächen mit den Otto-Beschäftigten über deren eigene Bedürfnisse und Ziele gesprochen und eine neue Diskussionskultur etabliert.Jeder sollte möglichst immer auf dem gleichen Stand der Diskussion sein und schrittweise lernen, für seine Überzeugung auch geradezustehen. "Es geht darum, die Leute zu ermächtigen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen", sagt die Organizerin Franziska Bruder.
In ersten niedrigschwelligen Aktionsformen wie dem Button-Tag probten die Belegschaften in Ost und West den "Arbeitskampf light" und begannen allmählich, über die Aktion zu einer selbstbewussten Interessengemeinschaft zu werden. Später, beim Streik, ging es um bunte, intervenierende Aktionen, statt sich im Streiklokal die Beine in den Bauch zu stehen.
Jeden Tag gab es ein anderes Happening. Da wurde beispielsweise der Hamburger Jungfernstieg, den die Otto-Familie mit Millionen gesponsert hat, zum Streikstrand erklärt. Oder die Streikenden besuchten sich gegenseitig in Hamburg und Haldensleben.
Beim zweiten Organizing-Projekt zahlt sich der Einsatz auch in den Mitgliedszahlen aus. "300 neue Mitglieder hatten wir als Ziel definiert, jetzt sind es an beiden Standorten schon über 500 neue ver.di-Mitglieder", bilanziert ver.di-Fachbereichsleiter Ulrich Meinecke zufrieden. Eine entscheidende Bedingung, warum es diesmal besser läuft, ist sicherlich, dass die Organizer die Arbeitnehmer konzentriert an nur vier Betriebsstätten und nicht wie bei den Wachleuten einzeln an vielen Dutzend Standorten über die Stadt verstreut aufsuchen konnten.
"Wir hatten soziale Netzwerke, auf die wir aufbauen konnten, und es gab auch eine funktionierende ver.di- und Betriebsrätestruktur", sagt Bruder. Otto war für ver.di kein weißer Fleck wie die Wachbranche. Die Raucherecke, der Sozialraum und der gemeinsame Schichtbetrieb - all das fehlte bei den Wachleuten.
Das Heft des Handelns haben Organizer und ver.di-Sekretär an diesem Morgen im Gewerkschaftshaus nicht in der Hand - und das ist gewollt. Nicht der Betriebsratsvorsitzende leitet die Diskussion, sondern eine Vertrauensfrau. Der Grundgedanke, dass Organizing vor allem das Ziel hat, die Arbeitnehmer so stark zu machen, dass sie selbst ihre persönlichen und politischen Interessen im Betrieb definieren und sich auch über die Strategien im Arbeitskampf eine eigene Meinung bilden, scheint zu funktionieren.
An diesem Morgen im Gewerkschaftshaus geht es darum, ob der Streik über das Wochenende fortgesetzt werden soll. Oder ob die Belegschaft schon am Freitag wieder an den Arbeitsplatz zurückkehrt, weil der Arbeitgeber Gespräche angeboten hat. Olaf Brendel, der Betriebsratsvorsitzende, und der ver.di-Sekretär Meinecke sind dafür.
Doch die Belegschaft will nicht, sie ist misstrauisch gegenüber der Unternehmensleitung - und stimmt gegen das Votum der beiden. – und stimmt gegen das Votum der beiden. "So muss es sein", sagt Franziska Bruder. "Wenn eine Belegschaft sich selbst einschätzen und die entscheidenden Diskussionen weitgehend autonom organisieren kann, dann sind wir mit Organizing auf dem richtigen Weg."