Magic Train - das Krankenhaus, das zu seinen Patienten kommt

Der indische Lifeline-Express ist ein rollendes Operations-Theater, in dem ehrenamtlich arbeitende Ärzte arme Menschen von ihren Krankheiten befreien.

Remyas Augen suchen ihren Vater. Es dauert eine Ewigkeit, bis sie ihn auf dem Bahnsteig entdeckt. Dann verschwimmt die Wirklichkeit, versagen ihr die Beinmuskeln. Die Narkose hat die Zwölfjährige noch fest im Griff und nur die Arme der Schwestern verhindern, dass die junge Inderin zusammensackt.

Mathai Joy ist aufgesprungen und zu seiner Tochter geeilt. Mit seiner linken Hand trägt er die Tüte mit Remyas orangenfarbenen Lieblingskleid, ihren beiden Zahnbürsten und Handtüchern. Mit der rechten drückt er seine Älteste an die Seite und geleitet sie zärtlich zum Krankentransporter.

Dann wirft er einen letzten Blick auf die vier Zugwaggons, die auf einem Seitengleis des Bahnhofes von Calicut im indischen Bundesstaat Kerala stehen; schaut zu den Plastikstühlen hinüber, auf denen er so viele Stunden warten musste. Er hat seine Finger geknetet, Gott um Beistand gebeten, hat jeden Millimeter der Außenwand des Zuges mit seinen Augen abgetastet und ist immer wieder an den Unebenheiten hängen geblieben, mit dem der Maler dem Schriftzug „Lifeline Express“ eine ungewollt persönliche Note gegeben hat.

Die Inder nennen den Zug „Magic Train“. Weil er nicht an Palästen Halt macht, sondern dort wo es nach Hunger, Armut und Tod stinkt, wo es kaum Ärzte und selten eine Zukunft gibt.

Der Lifeline Express ist das erste Hospital, das zu seinen Patienten kommt. Über 300.000 Menschen mit Behinderungen wurden in seinem rollenden Operationssaal behandelt. Kostenlos. Inder mit Kinderlähmung, Gehörlose, Erwachsene, die unter dem grauem Star, Kinder, die an Rachitis leiden. Und bei Katastrophen wie dem verheerenden Erdbeben von Gujarat im Januar diesen Jahres, war der Lifeline Express sofort zur Stelle.

Inzwischen findet das Konzept der "Impact India Foundation" Nachahmer. In China verkehren fünf Züge; in Zimbabwe und Südafrika fährt jeweils einer und in Bangladesh wird das mobile Krankenhaus als Flussschiff betrieben.

In Calicut am Indischen Ozean stehen die vier weiß-blau gestrichenen Waggons zum ersten Mal. In den ersten Jahren sah Impact India keine Notwendigkeit für eine Reise in den Südwesten, denn Kerala gehört zu den wohlhabenden, medizinisch gut versorgten Bundesstaaten. Trotzdem leiden auch hier Menschen an Behinderungen, vor allem auf dem Land und den Höhen der Western Ghats.

Idayadiyil ist nur über eine dieser kunstvoll in die Hügel geschlagenen Passstraßen zu erreichen, bei denen die Fahrer vor Beginn der Reise ein Gebet ausstoßen und die Bremsbeläge überprüfen sollten. Drei Stunden dauert die Fahrt, bis Remya ihr winziges Heimatdorf erreicht.

Von der Straße führt ein Trampelpfad in ein grünes Tal. Kokospalmen und Bananenstauden verdecken das kleine Haus. Mathai Joy hat die Steine gebrannt, das Dach selbst gedeckt. In den zwei Zimmern wohnt er mit seiner Frau, deren Mutter sowie den beiden Töchtern Remya und Usha.

Auf dem ansteigenden Boden wachsen Chilis und Ingwer, Kaffee und Pfeffer. Keine fünf Minuten entfernt sprudelt eine Quelle. In der Talsohle sprießt Reis. Es ist fruchtbares Land, ein Paradies nahezu. Eines allerdings, das sich zu viele Menschen teilen müssen. Mathai Joy besitzt nur einen Viertel Hektar, also nicht einmal die Hälfte eines Fußballfeldes.

Er muss sich als Landarbeiter bei seinen Nachbarn verdingen. Aber er klagt nicht. In seinem Tal gibt es keinen Großfarmer, der sich auf seine Kosten bereichert. Das Einkommen von Mathai Joy reicht aus, um die Familie zu ernähren, und er kann - für einen Landarbeiter ungewöhnlich - seine Kinder in die Schule schicken. Das Geld für Remyas Operation hat der 39-Jährige jedoch all die Jahre nicht zur Seite legen können.

Der Katholik empfand es deshalb wie ein Wink Gottes, als er die Nachricht von der baldigen Ankunft des Magic Trains erhielt. „Bringt Eure behinderten Mitmenschen in die Gesundheitsposten“, verkündeten Lautsprecherwagen. Remya wurde untersucht und für eine Operation vorgemerkt. Zum vereinbarten Termin sollte sie sich in Calicut einfinden, zwei Tage später operiert werden.

Bald wird nur noch eine kleine Narbe auf Remyas Oberlippe an den Eingriff erinnern. Eine kleine Narbe, wo zuvor ein riesiges Loch klaffte, weil Oberkiefer und Lippen nicht gewachsen waren wie es der menschliche Bauplan vorsieht.

Jetzt schmiegt sich Remya an die Seite ihres Vaters. Der legt zärtlich seine Hand um ihre Schulter, spürt die Wärme ihres Körpers und weiß gar nicht, wie er den Wellen der Rührung Herr werden soll, die ihn durchfluten.

Behinderungen gehören in Indien zum Alltag. Kein Markt, über den nicht Erwachsene an Krücken humpeln oder gelähmte Kinder ihre Hand aufhalten, kein Bus, in dem nicht blinde oder taube Menschen mitfahren. Die Normalität, mit der sie ihren Platz in der indischen Gesellschaft einnehmen können, sie hat etwas zutiefst Menschliches.

Einerseits.

Denn mehr als die Hälfte aller Behinderungen könnte verhindert oder beseitigt werden. In den reicheren Familien tauchen Fälle von Kinderlähmung so selten auf wie in westlichen Ländern, in den Armenvierteln dagegen grassiert die Krankheit als gebe es in Indien weder Impfstoffe noch Kliniken und Ärzte.

So sind Behinderungen nichts weiter als Brandmale der Verarmung. Sie belegen, wie viele Menschen ohne Bildung, Arbeit und medizinische Versorgung ihr Leben fristen, während zwei Schritte weiter die Reichen ihre Pracht entfalten.

Das Panoramafenster über den Dächern von Bombay gewährt einen guten Blick auf die Skyline der indischen Metropole. Unten an der Uferpromenade breiten Wäscher Kleidungsstücke auf dem Grün aus. Oben serviert das Hausmädchen Tee. Zelma Lazarus stammt aus der indischen Oberschicht und daraus macht die 63-jährige Frau keinen Hehl.

Lange Jahre kannte sie Armut nur als etwas Abstraktes, das am Autofenster vorbeischwirrte und als Impact India Foundation 1983 gegründet wurde, kam sie eher beiläufig zu einer Aufgabe, die ihr längst Berufung geworden ist. Ihr Chef, der legendäre JRD Tata, Leiter des ältesten und größten privaten Industriekonglomerats selbigen Namens, kommandierte sie kurzerhand ab. Sie sollte die Organisation aufbauen - das Gehalt bezahlte er.

In den städtischen Slums und den Dörfern bekommt die Armut für Zelma Lazarus Konturen. Das gelähmte Mädchen hat einen Namen, der blinde Alte ein vom Hunger verzehrtes Gesicht.

Aus dem Schock wird Engagement. „Arme Menschen haben ein Recht auf ärztliche Behandlung“, erklärt sie heute, wütend darüber, dass viele Inder ihre Gesundheitsposten geschlossen vorfinden.

Die Idee für den Lifeline Express hat Zelma Lazarus, als sie mit zwei Ärzten in das Chamba-Tal nahe Pakistan fährt. Für einige Wochen wollen diese die Einwohner medizinisch versorgen. Einem kleinen Jungen ist nur im nächsten Krankenhaus zu helfen. Die Fahrt wird zur Tortur. Als ein Güterzug den Weg passiert, verbindet Zelma Lazarus beide Ereignisse zu einer Idee: „Mit einem Zug könnten wir das Hospital zu den Menschen bringen.“

Einige Monate später geht der Magic Train auf Jungfernfahrt. Die Waggons hat die indische Staatsbahn gestiftet, ihren Ausbau die Arbeiter des Ausbesserungswerkes in ihrer Freizeit besorgt. Die Spenden kamen von allen Seiten. „Wenn Du ein aufrichtiges Anliegen hast, erhältst Du alle Hilfe der Welt“, resümiert Zelma Lazarus.

Selbst wenn die Eisenbahner streiken, für den weißblauen Zug geben sie grünes Licht und die Unternehmer spenden, weil sie sich mit dem Image des Zuges schmücken wollen. Doch war es nicht allein die Idee, die den Erfolg brachte, sondern auch die Fähigkeit von Zelma Lazarus, andere zu überzeugen. Sie findet die nötigen Worte, ihr hören die Menschen zu. Der schwarze Hosenanzug und die wuschligen, ungebändigten Haare zeigen bereits äußerlich, dass die dienende Rolle einer indischen Frau nie ihre Sache war. Zelma Lazarus suchte sich ihren Ehemann mit 16 Jahren selbst aus, während die meisten Mädchen und Jungen in Indien verheiratet werden. Sie erzog ihre zwei Kinder und hat sich mit Intelligenz und einer sympathischen Halsstarrigkeit ihren Platz in der männerdominierten Managerkaste erkämpft.

Das kommt den Patienten des Lifeline Express zugute. „Ohne Geld verlaufen die besten Ideen im Sande“, weiß sie. Mit Almosen lässt sie sich nicht abspeisen. Vor allem aber verfügt sie über ein Adressverzeichnis, in dem viele einflussreichen Inder aus Wirtschaft und Politik verzeichnet sind.

Die erste Reise wird dennoch zu einem Alptraum. Wie ein Lauffeuer spricht sich die Ankunft des Lifeline Express herum. Selbst aus 300 Kilometer Entfernung kommen die Menschen angereist. „Wir hatten uns auf 2.000 Menschen eingestellt und plötzlich standen jeden Tag 5000 Menschen vor den vier Waggons“, erinnert sich Zelma Lazarus. Es gibt kuriose Fälle wie den 80-jährigen Greis, der um ein neues Gebiss fragt. Die meisten aber sind ernsthaft erkrankt. „Wir aber konnten ihnen kaum helfen.“

Es war eine schmerzhafte Zäsur. Heute werden die Reisen minutiös vorbereitet und das verdankt Zelma Lazarus dem Mann mit dem blütenweißen Hemd, der gebügelten grauen Hose und den gewienerten Schuhen. Colonel Singh sitzt in einem Plastikstuhl und trinkt Kaffee. „Er wurde uns vom Himmel geschickt“, sagt Zelma Lazarus. Dem Colonel, der bis zu seiner Pensionierung in der Armee gedient hatte, ist das Lob eher unangenehm. Er streicht sich mit den Fingern über die geschorene Kopfhaut, bevor er mit leiser Stimme seine Erfahrungen schildert.

Heute arbeitet die kleine Crew des Lifeline Express immer mit einer lokalen Organisation zusammen. Die bereitet sein Kommen vor. In Calicut war es die „Association for Welfare of the Handicapped“ (AWH), die in einem Umkreis von 200 Kilometern mehr als 10.000 Menschen untersuchten. Sie stellen den Transport der Operierten sicher, organisieren Krankenschwestern, Köche, Ärzte und das Gebäude, in dem Patienten wie Remya betreut werden.

Colonel Singh hat ein Auge auf den Ablauf. Einmal am Tag fährt er in das nahegelegene Heim der AWH, spricht mit den Patienten, schaut, ob sie genügend zu essen und die richtige Medizin erhalten. Er ordert neue Medikamente, organisiert den Dienstplan der Ärzte, die an den drei Tischen im zweiten Waggon operieren und sorgt dafür, dass ihr Besteck desinfiziert, die grünen OP-Kittel gewaschen und das Notstromaggregat im Küchenwaggon über genügend Diesel verfügt. Wenn nötig, führt er Besucher durch den Zug, zeigt ihnen, wo die Patienten aufwachen und Ärzte ausruhen oder übernachten können. Er lässt Sonnenplanen aufstellen und täglich stimmt er sich mit Zelma Lazarus ab.

Es sind viele tausend Dinge, die in seinem Kopf zusammenlaufen und die er aus dem winzigen Zugabteil in die richtigen Bahnen weist. Sein Metier beherrscht er, schließlich hat er in der Armee 40 Jahre lang Lazarette organisiert. Warum er das heute noch macht?

Der Colonel zögert. Die Antwort fällt ihm schwer, vielleicht weil es viele Antworten gibt und sie alle sehr persönlich ausfallen. Eine rührt von seinem Glauben. „Es geht darum, alle Menschen zu respektieren“, sagt er. Für einen Hindu, der noch dazu der höchsten Kaste, den Brahmanen, entstammt, haben diese Worte geradezu etwas Revolutionäres. Denn die meisten Hindus sehen in den Menschen, die keiner der vier Kasten angehören, Ausgestoßene, die sie häufig wie Sklaven oder Dreck behandeln.

Colonel Singh ist eine Ausnahme. Den Hilfesuchenden auf dem Bahnsteig begegnet er höflich, geradezu bescheiden. Respekt ist für ihn gleichbedeutend mit Engagement. Einmal war ein Kind während der Operation ins Koma gefallen und nur ein Spezialist in einem weit entfernten Krankenhaus konnte helfen. „Ich fuhr die Nacht durch und als ich im Hospital ankam, hatte genau dieser eine Arzt Dienst. Für mich war das wie ein Fingerzeig Gottes“, sagt er leise.

Dieses Erlebnis lässt ihn auch mit 67 Jahren all die Unannehmlichkeiten des ständigen Reisens auf sich nehmen. Zwei Drittel des Jahres lebt der Colonel wie der Wind. Sein angeschlagener Aktenkoffer ist dafür Beleg und wichtiges Utensil. Wenn er ihn aufklappt, schaut ihm Sai Baba entgegen, jener Erleuchtete, den er zutiefst verehrt. Jeden Morgen und jeden Abend meditiert er vor seinem Abbild, um Kraft und Konzentration zu schöpfen.

Neben Sai Baba klebt ein Foto von drei Kindern, deren Augen mit Watte verbunden sind. Ihre Namen kennt er auswendig. Es sind Parvati, Kamini und Kamal Narayan, die alle im Bahnhof von Durg im Bundesstaat Madhya Pradesh operiert worden waren. Als die Ärzte den Mädchen sowie dem Jungen die Binden abnahmen, sahen die Kinder zum ersten Mal die Welt, die sie vorher nur ertastet und gehört hatten.

Bilder wie dieses helfen ihm über schwere Tage hinweg. Sie stehen für das Glück, das er den Menschen bringen kann. Diese Befriedigung ist ihm wichtiger als die Beschaulichkeit eines gemächlichen, gar langweiligen Lebensabend.

In Zelma Lazarus hat er eine Gleichgesinnte gefunden. Zusammen bilden sie ein Team der Menschlichkeit. Der Magic Train ist für beide ein Ort, wo die indischen Kasten aufeinandertreffen. Die Ärzte arbeiten kostenlos, so wie es Colonel Singh und Zelma Lazarus tun. Das Geld steuern die Reichen des Landes bei, nicht immer ohne den Hintergedanken der Eigenwerbung. Trotzdem. Der Einsatz kommt jenen zugute, die Solidarität und Kapital benötigen. Remya zum Beispiel, das Mädchen aus den Western Ghats. Dank des einfachen Eingriffes kann sie zu einer Frau ohne Behinderung heranwachsen. Für viele Inder transportiert der Zug deshalb eine weitere Botschaft. Er vermittelt ihnen die Hoffnung auf ein anderes Indien, eines der Menschlichkeit über alle Klassen hinweg.