Die Globalisierungsgewinner

Die norddeutschen Häfen und Werften erleben derzeit nach schlechten Jahrzehnten einen Boom. In strukturschwachen Regionen sind sie wahre Wachstumsmotoren und schaffen nachhaltige Beschäftigung - unter Beteiligung von Betriebsräten und Gewerkschaften.

Sanft lässt Nadine Manthey den Mazda CX9 ausrollen. Sie parkt ihn auf dem Terminal neben Dutzenden anderen Fahrzeugen und schiebt damit ein weiteres der vielen tausend täglichen Puzzle-Teilchen an die passende Stelle der Transport-Logistik im Bremerhavener Autohafen. Die Frau im Blaumann lässt den Schlüssel im Auto stecken und steigt aus. Ein leichtes Lächeln umspielt ihre Lippen. Kein Wunder: Nadine Manthey, 24 Jahre alt, kann nach drei Jahren Hartz IV endlich ihre Schulden abbezahlen. Sie sitzt auch nicht mehr zuhause und grübelt über ihre Zukunft. Nach drei Jahren Arbeitslosigkeit und unzähligen Arbeitsagenturgesprächen kam für die gelernte Einzelhandelskauffrau endlich der Lichtstreif. Nachdem Nadine Manthey das Profiling mit Führerschein Klasse 3 und Konzentrationsfähigkeit erfolgreich bewältigt hatte, offerierte ihr die Bremerhavener Arbeitsagentur den Einstieg in den Hafen – zunächst als angelernte Kraft befristet für ein Jahr, aber mit Aussicht auf die Ausbildung zum Hafenfacharbeiter. Was ist das Gute am neuen Job? „Das Autofahren natürlich und die neuen Kollegen“, sagt die bekennende Autonärrin und steigt auch schon wieder in den Wagen ein, der sie zusammen mit vier weiteren Kolleginnen zurück aufs Schiff bringt. Da wartet der nächste Mazda CX9 auf sie.

Nadine Manthey gehört zu den vielen hundert neuen Kräften, die in den Bremischen Häfen in den vergangenen Jahren nach zum Teil langjähriger Arbeitslosigkeit neue Beschäftigung gefunden haben. Allein in Bremerhaven sind in den letzten vier Jahren 300 neue Brücken- und die Van-Carrier-Fahrer – sie steuern die Containerkräne – angestellt worden, zu Hafentarifbedingungen. Obwohl die Spezialfahrer für ihre neue Aufgabe keine klassische Ausbildung sondern lediglich Lehrgänge brauchen, zählen sie sehr schnell zu den Gutverdienern im Land. „Mit Nacht- und Wochenendzuschlägen kann es ein Van-Carrier-Fahrer auf 60.000 Euro und mehr im Jahr bringen“, sagt Wolfgang Lemke, Betriebsratsvorsitzender der Bremer Lagerhaus-Gesellschaft (BLG) für den Bereich Autologistik. Das macht die Jobs im Hafen so attraktiv. Weil die Belegschaften in den Häfen schon immer starke Arbeitnehmervertretungen hatten, ist das Lohnniveau so hoch. Doch es gilt seit langem die Regel: je dichter der Job an der Kaimauer ist, desto besser sind die Arbeitnehmer organisiert und desto mehr verdienen sie. Entstehen neue Hafen-Arbeitsplätze in Lagerhallen auf der grünen Wiese, wo Container konfektioniert, also entladen und sortiert werden, ist die Bezahlung oft genug an Aushilfstätigkeiten orientiert. Und der Organisationsgrad manchmal einstellig.

Die neuen Jobs sind in Bremerhaven wertvoller als anderswo. Die 115.000 Einwohner-Stadt galt in Westdeutschland über viele Jahre als Synonym für ostdeutsche Arbeitslosenzahlen. Vor zehn Jahren schien es, als wenn es keinen Hoffungsschimmer für die Weser-Stadt: und die Branchen, die für Bremens Industriekultur standen – Schiffbau, Stahlindustrie, Hafenwirtschaft – geben könne. Heute freut man sich in der Arbeitsagentur der Stadt fast auf die neuen Arbeitsmarktzahlen, die – wenn auch noch nicht zufriedenstellend – so doch wenigstens eine klare Tendenz aufweisen. „Bremerhaven hat sich komplett gewandelt“, sagt Friedrich-Wilhelm Gruhl, stellvertretender Geschäftsführer des Arge-Job-Centers Bremerhaven. Windkraft und Tourismus, aber vor allem der Hafen bringen neue Arbeitsplätze in die Stadt: Einfache Jobs, wie Container auspacken und neu zusammenstellen, aber auch Stellen für Logistiker, Versicherer und Finanzierer. „Noch vor fünf Jahren hatten wir 26 Prozent Arbeitslosigkeit in der Stadt. Heute sind wir bei sechzehn Prozent angekommen“, sagt Gruhl, nicht ohne Stolz in der Stimme.

Der Bereich, der in Bremerhaven besonders boomt, ist die Autologistik. Über zwei Millionen Autos werden inzwischen jährlich über den Seehafen verschifft, mit steigender Tendenz. Im letzten Jahr waren es 200.000 Autos und damit zehn Prozent mehr als 2006. Damit hatten die Bremerhavener schon 2007 die für 2010 prognostizierte Umschlagszahl erreicht. Ein gewichtiger Grund dafür ist, dass neben den klassischen Beladungstätigkeiten um die Kaimauern – oder Kajen, wie es im Bremischen heißt – ein ganz neuer Produktionszweig direkt im Hafen entstand: Hunderte KfZ-Spezialisten endmontieren in großen Werkstätten im Hafen die weltweit in den Autowerken am Fließband produzierten Neuwagen: mit von den Händlern oder Kunden bestellten Extras wie Klimaanlagen, Spoilern oder Navigationsgeräten, oder auch mit landesspezifischen Details für den lateinamerikanischen oder den russischen Markt. Jedes vierte hier im Hafen umgeschlagene Auto, etwa eine halbe Million PKW, wird in den im Bremerhavener Autoterminal in den vergangenen Jahren angesiedelten Werkstätten einer solchen Spezialbehandlung unterzogen.

Das Land Bremen setzt darauf, dass der Boom anhält. In Bremerhaven investiert es allein in den Ausbau des Containerterminals CT4 und den Ausbau der Kaiserschleuse für Autologistik 700 Millionen Euro. Und in den Ausbau des citynahen alten Fischereihafens und weiterer Hafenflächen fließen zusätzlich im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts eine halbe Milliarde Euro aus EU-, Bundes-, Landes- und kommunalen Mitteln, um neue Industriezweige und Dienstleistungen anzusiedeln. Auch die Arbeitnehmervertreter versuchen, hierbei ein Wörtchen mitzureden. „Als Betriebsräte und Gewerkschaftsvertreter sitzen wir in den Bremer Häfen bei vielen Entscheidungen mit am Tisch. Ohne Verdi läuft hier nichts“, sagt Harald Bethge, Landesfachbereichsleiter Verkehr für Häfen, Schifffahrt und Luftverkehr. Schließlich geht es auch darum, wie die Häfen die immer größer werdenden Umschlagsmengen bewältigen können. So wachen die Arbeitnehmervertreter darüber, dass die gute Geschäftslage nicht auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird. „Die Kollegin Nadine Manthey hat die 35 Stunden-Woche“, sagt Betriebsrat Wolfgang Lemke mit Stolz, „wie wir alle hier. Die Geschäftsführung hat uns jede Überstunde vorzulegen.“ Er will damit auch sagen, dass die Arbeitgeber nicht so richtig viel gegen den Widerstand der 8.000 in den zwei bremischen Häfen organisierten Verdi-Mitglieder ausrichten können. „Der hohe Organisationsgrad tut allen Beteiligten gut“, sagt Verdi-Mann Bethge. Die norddeutschen Häfen zählen zu den prozentual am besten organisierten Betrieben in Verdi.

Die Arbeitnehmervertreter sorgen auch für Beschäftigung und Ausbildung. Beispielsweise indem sie in dem von Bundesregierung, Küstenländern, Gewerkschaften und Reedern gegründeten und von Berlin mit 60 Millionen Euro finanzierten Maritimen Bündnis gleichberechtigt mit den Arbeitgebervertretungen neue Ausbildungswege gestalten. Oder mit Arbeitgebern und Arbeitsagentur Wege suchen, den immensen Fachkräftebedarf der Zukunft zu decken. „Die Häfen sind Globalisierungsgewinner und Jobmotoren“, sagt Bethge. „Da können viele junge Arbeitslose eine Chance finden und wir als Gewerkschaft die Bedingungen für die neuen Kollegen mitgestalten.“

Gut hundert Kilometer westlich in den Produktionshallen der Meyer-Werft in Papenburg blitzen Schweißgeräte, ziehen Gruppen Dutzender Männer in Blaumann und mit gelbem  Sicherheitshelm auf dem Kopf durch die riesigen Werkshallen. Wie viele hier ist auch Betriebsrat Wilfried Sürken beim Rundgang sichtlich stolz auf das, was er und seine Kollegen hier bauen: die AIDA-Kreuzfahrtschiffe etwa oder die Celebrity Solstice, das größte jemals in Deutschland gebaute Kreuzfahrtschiff, ein schwimmender Edelpalast  der Fünf Sterne-Kategorie. Erwin Siemens, der Betriebsratsvorsitzende, begegnet dem Ganzen emotionsfreier. „Natürlich ist Meyer ein streng kalkulierender Wirtschaftsmann. Aber die Werft gehört nicht ihm und seiner Familie allein. Die Meyer-Werft ist genauso in der Hand der Familien, die hier zum Teil auch schon seit Generationen arbeiten“, sagt der 35-jährige gelernte Schlosser – ein großer kräftiger Mann, der seine Worte sorgsam wählt und unaufgeregt ausspricht.

Die 35.000-Einwohner-Stadt Papenburg liegt an der Ems, der Schnittstelle zwischen Emsland und Ostfriesland – wie Bremerhaven eine strukturschwache Gegend. Wenn die Meyer-Werft mit ihren 2.700 Arbeitsplätzen nicht wäre, sähe es für viele Familien hier düster aus. Größere Arbeitgeber kann man an einer Hand abzählen, zu den wichtigsten gehören VW Emden, die Gardinenwerke Ado, die Maschinenfabrik Krone und die Kochlöffel GmbH. Mit öffentlichen Mitteln versuchen die politisch Verantwortlichen daher, ihre Region nach vorn zu bringen. „Wir versuchen alles abzugreifen, was nicht niet- und nagelfest ist“, sagt Dieter Schröer, der seit über 20 Jahren für Wirtschaftsförderung im ostfriesischen Landkreis Leer zuständig ist. Seit Mitte der Achtziger sind annähernd 100 Millionen Euro aus EU-Töpfen – meist kofinanziert durch Bund oder Land – nach Ostfriesland geflossen. Davon zeugen auch überall die dunkelblauen Plaketten, Aufkleber und Aufdrucke mit den kreisrund angeordneten gelben Sternen, die jeder sieht, der das platte Land hinterm Deich bereist. „Ohne diese Investitionen, sagt Wirtschaftsförderer Schröer, „stünden wir bei weitem nicht da, wo wir heute sind.“ Und das ist in der Tat beachtlich. Von in den Achtzigern ehemals über 20 Prozent konnte die Arbeitslosigkeit im Landkreis Leer auf heute unter zehn Prozent gedrückt werden. Als Beitrag zur Zukunftssicherung hat die strukturschwache Region ein maritimes Cluster gebildet: Landkreis-übergreifend haben sich das Emsland, die Grafschaft Bentheim und mehrere ostfriesische Kreise zu einem Werftenverbund zusammengeschlossen, zu dem die drei großen dort ansässigen Werften und diverse Zuliefererfirmen gehören.  Mitte der Neunziger mit der Ostfriesisch-Emsländischen Erklärung begonnen, setzen die nun auch formal als Emsachse kooperierenden Kreise neben eigenen, regionalen  Aktivitäten verstärkt auf EU-Förderung. Derzeit fließen Strukturmittel aus dem EU-Programm SustAccess. Dessen Hauptziel ist es, die Anbindung zwischen den Häfen und dem Hinterland an der Nordsee gezielt zu verbessern. Viele verschiedene Projekte habe man seit Gründung auf den Weg gebracht, sagt Hermann Wocken, der Geschäftsführer der Emsachse. Von den guten Erfahrungen mit den EU-Geldern wollen die norddeutschen Kreise auch in Zukunft gezielt profitieren. „Die Emsachse hat sich im April 2006 auch mit Blick auf die nächste EU-Förderperiode 2007 bis 2013 gegründet“, sagt Wocken.

Wenn die Meyer-Werft kein Familienunternehmen wäre, das seit nun sechs Generationen in der Region fest verankert ist, sondern eine Aktiengesellschaft für Shareholder, „dann“, sagt Betriebsrat Erwin Siemens, „wäre ich mir nicht sicher, ob es die Meyer-Werft so noch gäbe.“ Das Spannungsfeld, in dem sich Siemens und seine Kollegen im Betriebsrat bewegen, ist schnell umrissen. Da ist auf der einen Seite die weltweite Konkurrenz, insbesondere die koreanische Werftengruppe STX. Die hat sich im vergangenen Jahr mit fast 40 Prozent an der größten europäischen Werftengruppe Aker Yards beteiligt, um in das Kerngeschäft der Meyer-Werft, den Markt der Kreuzfahrtschiffe, einzusteigen. Es ist die erste Werft aus den asiatischen Billiglohnländern, die sich derartig offensiv in den bisher von Deutschen, aber auch von Italienern und Griechen beherrschten Kreuzfahrt- und Yachtenmarkt einmischen will. „Die Gefahr für uns ist sehr real, wenn STX europäisches Know-how einkauft“, sagt Siemens. Hinzu kommen die explodierenden Stahlpreise, die die Materialkosten für die Schiffe auf der Papenburger Werft auf bisher zusätzliche und nicht kalkulierte 40 Millionen Euro bis 2012 haben anschwellen lassen. Auf der anderen Seite steht eine Belegschaft, die „nicht immer noch produktiver werden kann“, wie Erwin Siemens sagt. „Der Ruf nach mehr Produktivität von Arbeitgeberseite ist wie ein permanenter Schrei in den Wald. Deshalb müssen wir als Belegschaft uns die Frage stellen, wie wir damit umgehen“, sagt er.

Seit Herbst vergangenen Jahres haben die verschiedenen Gewerke der Werft – Schiffsbauer, Elektriker, Schlosser und andere – auf eigenen Versammlungen diskutiert, wie man der Konkurrenz begegnen will. Im September hat dann die gesamte Belegschaft auf einer Werksversammlung unter der Überschrift „Besser werden und nicht billiger“ die Ergebnisse zusammengetragen. Fast dreitausend Verbesserungsvorschläge für die Organisation der täglichen Arbeit hat die Belegschaft in den vergangenen Monaten erarbeitet, davon 2.600 aus dem gewerblichen Bereich. „Das tun die Kollegen für sich, um ihre Arbeitsplätze zu stärken, nicht um den Eigentümer zu umschmeicheln“, sagt der Betriebsratsvorsitzende. Auch Bernhard Meyer, Eigentümer in sechster Generation, leistet seinen Teil. Nach einer 400-Millionen-Euro-Investition Ende des Jahrtausends will die Geschäftsführung nun noch einmal 160 Millionen Euro investieren, unter anderem in das dann wieder größte Trockendock der Welt.  Der Meyer-Werft geht es auf den ersten Blick  gut, die Auftragsbücher sind bis Ende 2012 gefüllt.

Dass sich das schnell wieder ändern kann, hat die mit 38 Jahren Durchschnittsalter junge Belegschaft erst im Nachklang des 11. September 2001 zu spüren bekommen. Damals brach der US-Markt zusammen, gleich zwei Kreuzfahrtschiffe wurden im Mai 2003 storniert. 565 Kollegen kriegten die Kündigung, immerhin fast ein Drittel weniger als die ursprünglich von der Geschäftsführung avisierten 794 Stellen. In der Krise bewährten sich das jahrelang geübte Miteinander und die kurzen Dienstwege zwischen Belegschaft und Geschäftsführung in dem Familienunternehmen Meyer-Werft; unter anderem mit einem damals vom Betriebsrat ausgehandelten Studienprogramm für die ausgelernten Schiffbauer, denen die Werft mit 800 Euro im Monat ermöglichte, der Krise mit einem Studium zu begegnen. Sie kehren nun langsam als fertig studierte Ingenieure wieder in den Betrieb zurück. Mittlerweile haben alle Azubis wieder unbefristete Anstellungsverträge. 200 Ehemalige konnten, nachdem ein Jahr später neue Aufträge akquiriert waren, wieder eingestellt werden.

Heute hat die Werft 2.700 Beschäftigte, mit einem Beschäftigungseffekt von drei bis vier weiteren Arbeitsplätzen auf einen Werftarbeitsplatz. 25 Prozent der Arbeitsleistungen macht die Meyer Werft selbst, der Großteil wird eingekauft. Fast 1.800 Unternehmen liefern zu, viele aus der Region. „Uns als Betriebsrat ist es auch eine Herzensangelegenheit, dass möglichst viel Arbeit vor Ort bleibt“, sagt Siemens. Und dass sich die auf anderen Werften manchmal ausufernde Leiharbeit in Grenzen hält: „500 Leiharbeiter ist die Obergrenze“, sagt Paul Bloem, der bis 1997 zehn Jahre Betriebsratschef war und heute Personalchef ist. Der Personaler fing vor 33 Jahren als Schiffbauer auf der Familienwerft an, zählt heute zum Vorstand der Meyer-Werft, ist aber Metaller geblieben. Bloem spricht viel von lebenslangem Lernen, von Wissensmanagement, von Erwerbsbiographien, die man hier gemeinsam mit dem Betriebsrat schreibe. Es sind die aktuellen Stichworte, jetzt im Auftragsboom. Doch auch er weiß selbst zu gut aus der Vergangenheit, dass Glück endlich ist. „Wir sehen ernsten Zeiten entgegen“, sagt er und blickt auf das Baudock auf der anderen Seite der Werkstraße. Vorm Werkstor steht die Konkurrenz, seit neuestem auch die asiatische. Und die kriselnde Konjunktur. Schlechtwetter für Kreuzfahrer also.