Die starken Frauen von Altenoythe

Wie die Beschäftigten der Behindertenhilfe im schwarz-katholischen Teil Niedersachsens einen Betriebsrat gründen und sich gegen Leiharbeit im eigenen Unternehmen wehren.

Zum Beispiel Ilse Müller, 62 Jahre alt, gelernte Einzelhandelskauffrau und Altenpflegerin. Nach vielen Berufsjahren in der Gastronomie fängt sie 2005 bei der Caritas Altenoythe als Betreuerin in einer Wohngruppe für Autisten an. "Toll, das ist eine sichere Stelle und gut bezahlt", freuen sich ihre Kinder. Oder Maria Winkeler, 46 Jahre, Kinderkrankenschwester. Sie will bei der Caritas endlich den Sprung in ein festes Arbeitsverhältnis schaffen - nach zehn Jahren auf befristeten Stellen in Krankenhäusern. "Wir waren ziemlich blauäugig, als wir hier angefangen haben", sagt die alleinerziehende Mutter heute.
Normalerweise erfüllen Frauen in Pflegeberufen ihre Schichtdienste klaglos und schweigsam. Sie füttern, waschen, trösten und motivieren Alte oder Behinderte, sie fügen sich in den Betrieb. Doch diese zwei Frauen - und viele andere bei der Caritas Altenoythe - haben sich gewehrt. Das hat hier, im katholischen Teil Niedersachsens zwischen Oldenburg und Cloppenburg, auf dem platten Land, keine Tradition - und erst recht nicht bei einem kirchlichen Träger, der bisher keinen aktiven Betriebsrat, sondern nur eine Mitarbeitervertretung hat.
Als Ilse Müller und ihre Kolleginnen ihre Stellen antreten, ahnen sie nicht, dass sie die neuen Billig-Pflegerinnen der Caritas mit ihren 39 Behinderteneinrichtungen in der Region werden sollen. 2005 gründet der Caritas-Verein Altenoythe still und heimlich eine unternehmensinterne Leiharbeitsfirma, die Caritas Dienstleistungsgesellschaft. Der einzige wirkliche Unterschied zum Mutterunternehmen: Dort gelten nicht mehr die an den öffentlichen Dienst angelehnten kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR), nach denen die Caritas normalerweise ihre Angestellten beschäftigt und entlohnt. Sondern der Tarifvertrag Leiharbeit des Bundesverbands Zeitarbeit. Alles andere ist gleich: gleiche Postadresse, gleiche Arbeit, gleicher Einsatzort und gleiche Arbeitszeiten. Die Arbeitnehmer werden nicht an fremde, sondern nur an das eigene Unternehmen, den Caritas-Verein, ausgeliehen - ein klassisches Strohmann-Konstrukt à la Schlecker.
Schnell fällt den neu Angestellten auf, dass sie viel weniger verdienen als ihre Kollegen beim Caritas-Verein. Und irgendwann merken sie, dass ihr neuer Arbeitgeber sie ausgetrickst hatte. "Ich wusste gar nicht, dass ich nicht bei dem Caritas-Verein, sondern bei einer Leiharbeitsfirma angestellt bin. Das hatte man mir im Vorstellungsgespräch nicht gesagt", sagt Ilse Müller. So wie ihr geht es vielen Frauen und Männern, die ab 2005 von der Caritas Altenoythe neu eingestellt werden. "Wer denkt schon daran, sich das Kleingedruckte durchzulesen, wenn er bei der Kirche anfängt", sagt Ilse Müller. Den außerordentlichen Gewinn für ihren Arbeitgeber stellen die neuen Caritas-Mitarbeiterinnen allerdings schnell auf ihrem eigenen Lohnzettel fest. Statt mehr als 2000 Euro brutto in der niedrigsten Entgeltgruppe des AVR verdient beispielsweise Ilse Müller als Pflegekraft für Autisten 1400 Euro brutto bei einer 36-Stunden-Woche mit Schichtdienst und Nachtbereitschaft. "Von 1000 Euro netto kann man doch kaum überleben", empört sich Müller.
Bei der Caritas in Altenoythe - Mitglied des Sozialverbandes der römisch-katholischen Kirche - muss man das. Weil es trotzdem nicht reicht, schuften einige noch nach dem Schichtdienst, manche von ihnen "steuerneutral", also schwarz. Die Leute mit weniger Arbeitsstunden pro Woche müssen zum Sozialamt und aufstocken. Caritas-Geschäftsführer Michael Bode, der sich das ausgedacht hat, wird all dies wissen. Denn sein Geschäftsmodell rechnet sich ziemlich schnell. Heute, nach nur fünf Jahren, ist ein Drittel der ehemaligen Caritas-Belegschaft bereits ausgetauscht. Von den insgesamt 800 Mitarbeitern arbeiten nur noch gut 500 zu den alten, an den öffentlichen Dienst angelehnten Tarifbedingungen der Kirche. Die anderen müssen Dumpinglöhne mit Einbußen von 20 bis 40 Prozent hinnehmen.
Anfang 2008 wird der Unmut groß und größer. Die neuen Caritas-Mitarbeiter gründen einen Betriebsrat, treten kollektiv in ver.di ein, organisieren Versammlungen und sogar Demonstrationen. "Das war am Anfang schon sehr schwer", sagt Ilse Müller, die heutige Sprecherin des Betriebsrats. "Wir hatten ja keine Ahnung, wie Betriebsräte funktionieren." Auch der Arbeitgeber macht es ihnen nicht einfach. "Wir mussten um alles kämpfen", berichtet die 26-jährige Heilerziehungspflegerin Jasmin Palus. "Ob Internetzugang oder Faxgerät: Fast immer mussten wir der Caritas erst mal mit einem Anwalt drohen, um unsere Rechte zu bekommen."
Unterstützt durch ver.di haben sich die Caritas-Leiharbeiter Stück für Stück in das Betriebsverfassungsgesetz eingearbeitet, haben Schulungen erkämpft und gegen die Leiharbeitskonstruktion geklagt. "Das ist ein sehr mutiger Schritt, gerade wenn der Arbeitgeber quasi ein Monopol in der Region hat", sagt die ver.di-Sekretärin Jannette Scheele und berichtet stolz, dass "etwa 80 neue Kollegen während der Auseinandersetzung neu in die Gewerkschaft eingetreten sind".
Den Betriebsrat der "Caritas-Dienstleistungsgesellschaft" hat der Arbeitgeber ein paar Hundert Meter von der Caritas-Zentrale entfernt untergebracht - nicht im Hauptgebäude, sondern auf einem ehemaligen Werkhof. Zwar brennt auf dem Hof nachts kein Licht, und auch der Abfluss ist nicht so richtig in Ordnung - aber die Arbeitnehmervertretung funktioniert.
Auffällig ist, dass einige der befristeten Kollegen, die sich gegen die Leiharbeit engagiert haben, nicht verlängert worden sind. Ein Vorwurf, den Geschäftsführer Michael Bode weit von sich weist. Bode, 59 Jahre alt, hat sein berufliches Leben nahezu komplett in der Caritas Altenoythe verbracht. Er spricht von Kürzungsbeschlüssen der Landesregierung in zweistelliger Millionenhöhe, die die Träger der niedersächsischen Behindertenhilfe auffangen müssen. Vom Versorgungsauftrag, den die Caritas in der Region habe, von der Zukunftsfähigkeit und von neuen Investitionen in Wohngruppen und Werkstätten für Behinderte. "Da müssen wir mit Gewerblichen konkurrieren und können keinen AVR-Tarif zahlen", sagt er. Aber müssen dafür die Mitarbeiter in der Pflege zu Dumpinglöhnen arbeiten? "Geld, das für Personal eingestellt ist, wird auch für Personal ausgegeben. Aber ich halte nichts davon, Geld für Investitionen, das wir zurückgelegt haben, für Personalkosten aufzubrauchen", sagt er.
Ende des Jahres auf einmal der Schwenk: Der Caritas-Geschäftsführer kündigt in der örtlichen Presse an, die Leiharbeit Mitte 2011 beenden zu wollen. Zu groß scheint der öffentliche Druck geworden zu sein. Mitarbeiter kündigten, sobald sie besser bezahlte Stellen fanden. Auch bei den anderen Trägern der Behindertenarbeit in Niedersachsen stieß Bode mit seinem Dumping-Modell nicht auf Gegenliebe. Für Ilse Müller und ihre Kolleginnen ist die Ankündigung des Endes der Leiharbeit ein Riesenerfolg.
Für die Caritas allerdings könnte das Leiharbeitsexperiment noch teuer werden, sollten die 15 Klagen, die derzeit vor dem Landesarbeitsgericht gegen das Strohmann-Konstrukt verhandelt werden, erfolgreich sein. Dann wird Bode nachzahlen müssen: nicht nur die vorenthaltenen Löhne, sondern auch die Sozialversicherung. Vielleicht lenkt er auch deswegen jetzt ein.